Ungekürztes Werk "Die Karawane" von Wilhelm Hauff (Seite 65)

Gut in der Brust des Tapferen wohnt: die Ehre, und daß der leuchtende Stern des Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht. Und sollte ich einer Krone entsagen, der Würfel liegt: Ehre und Ruhm, ich wähle euch!«

Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der Sultan befahl ihm innezuhalten. Er winkte Labakan, gleichfalls vor seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein Kistchen.

Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände, wandte sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: »Gott meiner Väter, der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden schände; sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser Stunde der Prüfung!«

Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine Erwartung fesselte die Anwesenden. Man wagte kaum zu atmen; man hätte ein Mäuschen über den Saal gehen hören können, so still und gespannt waren alle; die Hintersten machten lange Hälse, um über die Vorderen nach den Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: »Öffnet die Kistchen«, und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte, sprangen von selbst auf.

In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtnen Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans Kistchen – eine große Nadel und ein wenig Zwirn. Der Sultan befahl den beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Krönchen von dem Kissen in seine Hand, und – wunderbar war es anzusehen – wie er es nahm, wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten Krone erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohne Omar, der vor ihm kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirn und hieß ihn, sich zu seiner Rechten niedersetzen.

Zu Labakan aber wandte er sich und sprach: »Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem Leisten! Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar hast du meine Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich gebeten, dem ich heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir dein armseliges Leben. Aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile dich, daß du aus meinem Land kommst.«

Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen drangen ihm aus den Augen. »Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?« sagte er.

»Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden Stolz«, antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob; »gehe hin in Frieden.«

»O du mein echter Sohn!« rief gerührt der alte Sultan und sank an die Brust des Sohnes.

Die Emire und Bassas und alle Großen des Reiches standen auf von ihren Sitzen und riefen: »Heil dem neuen Königssohn!«, und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen unter dem Arm, aus dem Saal.

Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf und ritt zum Tore hinaus,

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