Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 115)
rief er Leni zu, die ihn gar nicht zu verstehen schien. Er selbst aber wollte zum Advokaten gehen und durch die Kündigung sich nicht nur vom Advokaten, sondern auch von Leni und dem Kaufmann befreien. Aber noch ehe er zur Tür gekommen war, sprach ihn der Kaufmann mit leiser Stimme an: “Herr Prokurist”, K. wandte sich mit bösem Gesicht um. “Sie haben Ihr Versprechen vergessen”, sagte der Kaufmann und streckte sich von seinem Sitz aus bittend K. entgegen. “Sie wollten mir noch ein Geheimnis sagen.” “Wahrhaftig”, sagte K. und streifte auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit einem Blick, “also hören Sie: es ist allerdings fast kein Geheimnis mehr. Ich gehe jetzt zum Advokaten, um ihn zu entlassen.” “Er entläßt ihn!” rief der Kaufmann, sprang vom Sessel und lief mit erhobenen Armen in der Küche umher. Immer wieder rief er: “Er entläßt den Advokaten!” Leni wollte gleich auf K. losfahren, aber der Kaufmann kam ihr in den Weg, wofür sie ihm mit den Fäusten einen Hieb gab. Noch mit den zu Fäusten geballten Händen lief sie dann hinter K., der aber einen großen Vorsprung hatte. Er war schon in das Zimmer des Advokaten eingetreten, als ihn Leni einholte. Die Tür hatte er hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die mit dem Fuß den Türflügel offenhielt, faßte ihn beim Arm und wollte ihn zurückziehen. Aber er drückte ihr Handgelenk so stark, daß sie unter einem Seufzer ihn loslassen mußte. Ins Zimmer einzutreten, wagte sie nicht gleich, K. aber versperrte die Tür mit dem Schlüssel.
“Ich warte schon sehr lange auf Sie”, sagte der Advokat vom Bett aus, legte ein Schriftstück, das er beim Licht einer Kerze gelesen hatte, auf das Nachttischchen und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah. Statt sich zu entschuldigen, sagte K.: “Ich gehe bald wieder weg.” Der Advokat hatte K.s Bemerkung, weil sie keine Entschuldigung war, unbeachtet gelassen und sagte: “Ich werde Sie nächstens zu dieser späten Stunde nicht mehr vorlassen.” “Das kommt meinem Anliegen entgegen”, sagte K. Der Advokat sah ihn fragend an. “Setzen Sie sich”, sagte er. “Weil Sie es wünschen”, sagte K., zog einen Sessel zum Nachttischchen und setzte sich. “Es schien mir, daß Sie die Tür abgesperrt haben”, sagte der Advokat. “Ja”, sagte K., “es war Lenis wegen.” Er hatte nicht die Absicht, irgend jemanden zu schonen. Aber der Advokat fragte: “War sie wieder zudringlich?” “Zudringlich?” fragte K. “Ja”, sagte der Advokat, er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall und begann, nachdem dieser vergangen war, wieder zu lachen. “Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schon bemerkt?” fragte er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. “Sie legen dem nicht viel Bedeutung bei”, sagte der Advokat, als K. schwieg, “desto besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt hätten.