Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 133)

zeigte mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopfschon weit zurückbeugen, um den Geistlichen noch zu sehen. “Du bist Josef K.”, sagte der Geistliche und erhob eine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. “Ja”, sagte K., er dachte daran, wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er zum erstenmal zusammenkam, wie schön war es, sich zuerst vorzustellen und dann erst gekannt zu werden. “Du bist angeklagt”, sagte der Geistliche besonders leise. “Ja”, sagte K., “man hat mich davon verständigt.” “Dann bist du der, den ich suche”, sagte der Geistliche. “Ich bin der Gefängniskaplan.” “Ach so”, sagte K. “Ich habe dich hierher rufen lassen”, sagte der Geistliche, “um mit dir zu sprechen.” “Ich wußte es nicht”, sagte K. “Ich bin hierhergekommen, um einem Italiener den Dom zu zeigen.” “Laß das Nebensächliche”, sagte der Geistliche. “Was hältst du in der Hand? Ist es ein Gebetbuch?” “Nein”, antwortete K., “es ist ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten.” “Leg es aus der Hand”, sagte der Geistliche. K. warf es so heftig weg, daß es aufklappte und mit zerdrückten Blättern ein Stück über den Boden schleifte. “Weißt du, daß dein Prozeß schlecht steht?” fragte der Geistliche. “Es scheint mir auch so”, sagte K. “Ich habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die Eingabe noch nicht fertig.” “Wie stellst du dir das Ende vor?” fragte der Geistliche. “Früher dachte ich, es müsse gut enden”, sagte K., “jetzt zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es?” “Nein”, sagte der Geistliche, “aber ich fürchte, es wird schlecht enden. Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen.” “Ich bin aber nicht schuldig”, sagte K., “es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.” “Das ist richtig”, sagte der Geistliche, “aber so pflegen die Schuldigen zu reden.” “Hast auch du ein Vorurteil gegen mich?” fragte K. “Ich habe kein Vorurteil gegen dich”, sagte der Geistliche. “Ich danke dir”, sagte K., “alle anderen aber, die an dem Verfahren beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.” “Du mißverstehst die Tatsachen”, sagte der Geistliche, “das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.” “So ist es also”, sagte K. und senkte den Kopf. “Was willst du nächstens in deiner Sache tun?” fragte der Geistliche. “Ich will noch Hilfe suchen”, sagte K. und hob den Kopf, um zu sehen, wie der Geistliche es beurteile. “Es gibt noch gewisse Möglichkeiten, die ich nicht ausgenützt habe.” “Du suchst zuviel fremde Hilfe”, sagte der Geistliche mißbilligend, “und besonders bei Frauen. Merkst du denn nicht, daß es

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