Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 60)

aufs Land kommst. Du bist auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst du dich kräftigen, das wird gut sein, es stehen dir ja gewiß Anstrengungen bevor. Außerdem aber wirst du dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier haben sie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendigerweise automatisch auch dir gegenüber anwenden; auf das Land müßten sie aber erst Organe delegieren oder nur brieflich, telegraphisch, telephonisch auf dich einzuwirken suchen. Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit dich zwar nicht, aber läßt dich aufatmen.” “Sie könnten mir ja verbieten, wegzufahren”, sagte K., den die Rede des Onkels ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. “Ich glaube nicht, daß sie das tun werden”, sagte der Onkel nachdenklich, “so groß ist der Verlust an Macht nicht, den sie durch deine Abreise erleiden.” “Ich dachte”, sagte K. und faßte den Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu können, “daß du dem Ganzen noch weniger Bedeutung beimessen würdest als ich, und jetzt nimmst du es selbst so schwer.” “Josef”, rief der Onkel und wollte sich ihm entwinden, um stehenbleiben zu können, aber K. ließ ihn nicht, “du bist verwandelt, du hattest doch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen, und gerade jetzt verläßt es dich? Willst du denn den Prozeß verlieren? Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, daß du einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird. Josef, nimm dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den Verstand. Wenn man dich ansieht, möchte man fast dem Sprichwort glauben: ‚Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben‘.”

“Lieber Onkel”, sagte K., “die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf deiner Seite und wäre es auch auf meiner. Mit Aufregung gewinnt man die Prozesse nicht, laß auch meine praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich deine, selbst wenn sie mich überraschen, immer und auch jetzt sehr achte. Da du sagst, daß auch die Familie durch den Prozeß in Mitleidenschaft gezogen würde – was ich für meinen Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aber Nebensache –, so will dir gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt halte ich selbst in deinem Sinne nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht und Schuldbewußtsein bedeuten. Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber auch selbst die Sache mehr betreiben.” “Richtig”, sagte der Onkel in einem Ton, als kämen sie jetzt endlich einander näher, “ich machte den Vorschlag nur, weil ich, wenn du hier bliebst, die Sache von deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser hielt, wenn ich statt deiner für dich arbeitete. Willst du es aber mit aller Kraft selbst betreiben, so ist es natürlich weit besser.” “Darin wären wir also einig”, sagte K. “Und hast du jetzt einen Vorschlag dafür, was ich zunächst machen soll?” “Ich muß mir natürlich die Sache noch überlegen”, sagte der Onkel, “du mußt bedenken, daß ich jetzt schon zwanzig Jahre fast ununterbrochen auf dem Lande bin, dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen nach. Verschiedene

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