Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 64)

Es war, als hätte die Vorstellung eines Krankenbesuchs den Advokaten bisher gelähmt, so gekräftigt sah er jetzt aus, blieb ständig auf einem Ellbogen aufgestützt, was ziemlich anstrengend sein mußte, und zog immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitte seines Bartes. “Du siehst schon viel gesünder aus”, sagte der Onkel, “seit diese Hexe draußen ist.” Er unterbrach sich, flüsterte: “Ich wette, daß sie horcht!” und er sprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück, nicht enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch größere Bosheit, wohl aber verbittert: “Du verkennst sie”, sagte der Advokat, ohne die Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit ausdrücken, daß sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er fort: “Was die Angelegenheit deines Herrn Neffen betrifft, so würde ich mich allerdings glücklich schätzen, wenn meine Kraft für diese äußerst schwierige Aufgabe ausreichen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht ausreichen wird, jedenfalls will ich nichts unversucht lassen; wenn ich nicht ausreiche, könnte man ja noch jemanden anderen beiziehen. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich die Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte, auf jede Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch wenigstens hier eine würdige Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.” K. glaubte, kein Wort dieser ganzen Rede zu verstehen, er sah den Onkel an, um dort eine Erklärung zu finden, aber dieser saß, mit der Kerze in der Hand, auf dem Nachttischchen, von dem bereits eine Arzneimittelflasche auf den Teppich gerollt war, nickte zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah hie und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hatte vielleicht der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Prozeß erzählt? Aber das war unmöglich, alles, was vorhergegangen war, sprach dagegen. “Ich verstehe nicht –”, sagte er deshalb. “Ja, habe vielleicht ich Sie mißverstanden?” fragte der Advokat ebenso erstaunt und verlegen wie K. “Ich war vielleicht voreilig. Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte, es handle sich um Ihren Prozeß?” “Natürlich”, sagte der Onkel und fragte dann K.: “Was willst du denn?” “Ja, aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen Prozeß?” fragte K. “Ach so”, sagte der Advokat lächelnd, “Ich bin doch Advokat, ich verkehre in Gerichtskreisen, man spricht über verschiedene Prozesse, und auffallendere, besonders wenn es den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis. Das ist doch nichts Merkwürdiges.” “Was willst du denn?” fragte der Onkel K. nochmals. “Du bist so unruhig.” “Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen?” fragte K. “Ja”, sagte der Advokat. “Du fragst wie ein Kind”, sagte der Onkel. “Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?” fügte der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete. “Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem Dachboden”, hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es wirklich zu sagen. “Sie müssen doch bedenken”,

Seiten