Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 67)

an und dann ließen Sie mich warten. Nennen Sie mich übrigens Leni”, fügte sie noch rasch und unvermittelt zu, als solle kein Augenblick dieser Aussprache versäumt werden. “Gern”, sagte K., “Was aber die Merkwürdigkeit betrifft, Leni, so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich doch das Geschwätz der alten Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens aber bin ich nicht frech, sondern eher schüchtern, und auch Sie, Leni, sahen wahrhaftig nicht so aus, als ob Sie in einem Sprung zu gewinnen wären.” “Das ist es nicht”, sagte Leni, legte den Arm über die Lehne und sah K. an, “aber ich gefiel Ihnen nicht und gefalle Ihnen auch wahrscheinlich jetzt nicht.” “Gefallen wäre ja nicht viel”, sagte K. ausweichend. “Oh!” sagte sie lächelnd und gewann durch K.s Bemerkung und diesen kleinen Ausruf eine gewisse Überlegenheit. Deshalb schwieg K. ein Weilchen. Da er sich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er verschiedene Einzelheiten der Einrichtung unterscheiden. Besonders fiel ihm ein großes Bild auf, das rechts von der Tür hing, er beugte sich vor, um es besser zu sehen. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er saß auf einem hohen Thronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das Ungewöhnliche war, daß dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfaßte, als wolle er im nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung aufspringen, um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden. Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren oberste, mit einem gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu sehen waren. “Vielleicht ist das mein Richter”, sagte K. und zeigte mit einem Finger auf das Bild. “Ich kenne ihn”, sagte Leni und sah auch zum Bilde auf, “er kommt öfters hierher. Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. Trotzdem hat er sich auf dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist unsinnig eitel, wie alle hier. Aber auch ich bin eitel und sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht gefalle.” Auf die letzte Bemerkung antwortete K. nur damit, daß er Leni umfaßte und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an seine Schulter. Zu dem Übrigen aber sagte er: “Was für einen Rang hat er?” “Er ist Untersuchungsrichter”, sagte sie, ergriff K.s Hand, mit der er sie umfaßt hielt, und spielte mit seinen Fingern. “Wieder nur Untersuchungsrichter”, sagte K. enttäuscht, “die hohen Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch auf einem Thronsessel.” “Das ist alles Erfindung”, sagte Leni, das Gesicht über K.s Hand gebeugt, “in Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine alte Pferdedecke zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an Ihren Prozeß denken?” fügte sie langsam hinzu. “Nein, durchaus nicht”, sagte K., “ich denke wahrscheinlich sogar zu

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