Ungekürztes Werk "Galgenlieder" von Christian Morgenstern (Seite 28)
ist nicht an dem;
doch sagt mir, lieber Herre, – !: wem?«
Dem Stiefel gibt es einen Ruck:
»Fürwahr, beim heiligen Nepomuk,
ich GING GANZ in Gedanken hin …
Du weißt, daß ich ein andrer bin,
seitdem ich meinen Herrn verlor …«
Der Knecht wirft beide Arm empor,
als wollt er sagen: »Laß doch, laß!«
Und weiter zieht das Paar fürbaß.
Der Aesthet
Wenn ich sitze, will ich nicht
sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte,
sondern wie mein Sitz-Geist sich,
säße er, den Stuhl sich flöchte.
Der jedoch bedarf nicht viel,
schätzt am Stuhl allein den Stil,
überläßt den Zweck des Möbels
ohne Grimm der Gier des Pöbels.
Die Oste
Er ersann zur Weste
eines Nachts die Oste!
Sprach: »Was es auch koste! –«
sprach (mit großer Geste):
»Laßt uns auch von hinten
seidne Hyazinthen
samt Karfunkelknöpfen
unsern Rumpf umkröpfen!
Nicht nur auf dem Magen
laßt uns Uhren tragen,
nicht nur überm Herzen
unsre Sparsesterzen!
Fort mit dem betreßten
Privileg der Westen!
Gleichheit allerstücken!
Osten für den Rücken!«
Und sieh da, kein Schneider
sagte hierzu: Leider –!
Hunderttausend Scheren
sah man Stoffe queren …
Ungezählte Posten
wurden schönster Osten
noch vor seinem Tode
›letzter Schrei‹ der Mode.
Der Vergeß
Er war voll Bildungshung, indes,
soviel er las
und Wissen aß,
er blieb zugleich ein Unverbeß,
ein Unver, sag ich, als Vergeß;
ein Sieb aus Glas,
ein Netz aus Gras,
ein Vielfreß –
doch kein Haltefraß.
Lieb ohne Worte
Mich erfüllt Liebestoben zu dir!
Ich bin deinst,
als ob einst
wir vereinigst.
Sei du meinst!
Komm Liebchenstche zu mir –
ich vergehste sonst
sehnsuchtstgepeinigst.
Achst, achst, schwachst schwachst arms Wortleinstche, was?
Genug denn, auch du, auch du liebsest.
Fühls, fühls ganzst ohne Worte: sei Meinstlein!
Ich sehne dich sprachlosestest.
Er
Er kratzte sinnend sich den Hinterkopf
mit seinem Kleinenfingernagel, den er
so lange nicht beschnitten hatte, bis
derselbe rings um unsre Erdensphäre
gewachsen war und ihm am Ende jener
den längst inzwischen kahl gewordnen Schopf
hinreichte (Ziel zugleich und Hindernis) –
ob es nicht kürzer auch gegangen wäre.
Es pfeift der Wind …
Es pfeift der Wind. Was pfeift er wohl?
Eine tolle, närrische Weise.
Er pfeift auf einem Schlüssel hohl,
bald gellend und bald leise.
Die Nacht weint ihm den Takt dazu
mit schweren Regentropfen,
die an der Fenster schwarze Ruh
ohn End eintönig klopfen.
Es pfeift der Wind. Es stöhnt und gellt.
Die Hunde heulen im Hofe. –
Er pfeift auf diese ganze Welt,
der große Philosophe.
Der heilige Pardauz
Im Inselwald ›Zum stillen Kauz‹,
da lebt der heilige Pardauz.
Du schweigst? Ist dir der Mund verklebt?
Du zweifelst, ob er wirklich lebt?
So sag ichs dir denn ungefragt:
Er lebt, auch wenn dirs mißbehagt.
Er lebt im Wald ›Zum stillen Kauz‹,
und schon sein Vater hieß Pardauz.
Dort betet er für dich, mein Kind,
weil du und andre Sünder sind.
Du weißt nicht, was du ihm verdankst, –
doch daß du nicht schon längst ertrankst,
verbranntest oder und so weiter –
das dankst du diesem Blitzableiter
der teuflischen Gewitter. Ach,
die Welt ist rund, der Mensch ist schwach.
Der zarte Greis
Er war so zart
geworden,
daß im Herbst –
als unter einen Baum er trat –
er lediglich von dürrem Laub
erschlagen ward!
Also zu lesen:
›Sonntagsblatt für Zerbst‹
(Der Mann war Bootsmannsmaat
gewesen
an Bord ›En-
dymion‹; pensioniert und taub.)
Golch und Flubis
Golch und Flubis, das sind zwei
Gaukler aus der Titanei,
die mir einst in einer Nacht
Zri, die große Zra, vermacht.
Mangelt irgend mir ein Ding,
ein Beweis, ein Baum, ein Ring –
ruf ich Golch, und er verwandelt
sich in das, worum sichs handelt.
Während Flubis umgekehrt
das wird, was man gern entbehrt.
Bei z. B. Halsbeschwerden
wird das Halsweh Flubis werden.
Fällte dich z. B. Mord,
ging der Tod als Flubis fort.
Lieblich lebt es sich