Interpretation "Galgenlieder" von Christian Morgenstern (Seite 2)

Die Galgenlieder sind stets auch ein spöttischer Seitenhieb auf alle Ideologen, Funktionäre, Politiker, Wissenschaftler ... Wichtigtuer, die über ihr Wichtigtun die eigene Lächerlichkeit als bedeutsamen Ernst verkennen. Parodistisch werden sie alle bereits durch das (der 1. Auflage vorangestellte) kompliziert-geschraubte Vorwort des fingierten Herausgebers Lic. Dr. Jeremias Mueller vorgeführt, das in seiner gestelzten Brillanz monumental nichtssagend ist: eine wunderbare Travestie auf alle Vorworte, die in ihrer eigenen Überheblichkeit Erklärungen abgeben wollen und, wie Morgenstern einmal sagt, nichts anderes sind als Verdunkelung.

Ist dies nicht genau Das große Lalula, der 'tiefere' Sinn dieses herrlich zu deklamierenden Lautgedichtes (eines der ersten seiner Gattung in der deutschen Literatur)? Morgensterns eigene Anmerkungen in Über die Galgenlieder bestätigen dies mit dem lakonischen Hinweis, es handle sich bei diesem Gedicht um die chiffrierte Wiedergabe der Endspielstellung einer Schachpartie ...

Dem Kroklokwafzi?, dem Semememi!, all den erfundenen Wörtern, den Lautgebilden liegt kein semantischer Sinn mehr zugrunde, auf den sie verweisen würden. Worauf sie verweisen, ist einzig und allein auf sich selbst. Aber damit öffnen sie sich dem menschlichen Bedürfnis nach Sinngebung und werden zugänglich für jeden interpretatorischen Akt: sie können die Chiffren einer Schachpartie oder auch etwas ganz anderes, purer Nonsens oder metaphysische Geheimsprache, alles oder nichts sein. Aus den un-sinnigen Versen wird ein Sinn-Spiel ohne Ende.

Eine Steigerung dessen bildet Fisches Nachtgesang, dieses – wiederum nach Morgensterns eigenem, im buchstäblichen und übertragenen Sinne gleichermaßen ironischen Kommentar – "tiefste deutsche Gedicht"; nur aus metrischen Zeichen aufgebaut, ist es konkrete Poesie als Endkonsequenz der Verschränkung von Form und Inhalt. Wird im großen Lalula der Leser durch die Buchstaben und Lautverbindungen noch dazu verführt, der Ebene der Schriftzeichen und Laute eine zweite Ebene des Sinns aufzunötigen, so verweigern sich hier die "stummen" Zeichen (sieht man vom Titel des Gedichts ab) scheinbar diesem Prozess der Sinngenerierung; aber der Titel und die Anordnung der graphischen Zeichen geben bereits einen 'Sinn', da sie zueinander kohärent sind. Dass dann der Nachtgesang des Fisches nicht nur eine Fischform ergibt, sondern ausschließlich aus Zeichen besteht, die keinen lautlichen Gegenwert haben, macht aus dem Gedicht mehr als ein Bild aus metrischen Zeichen. Durch die Herauslösung aus der 'eigentlichen' Bedeutungsebene vollzieht der Text in nuce den Vorgang nach, der für das Wesen von Literatur konstitutierend ist: die Errichtung eines sekundären semiotischen Systems. So wie jeder poetische Text Sprache über ihre alltägliche Bedeutung hinaus zum Ausgangsmaterial des eigenen, außerhalb der Sprache liegenden 'Sinns' macht, verwendet auch Fisches Nachtgesang die metrischen Kürzel: ihre ursprüngliche 'Bedeutung' ist zum formalen Element für eine neue, über den eigentlichen Sinn hinausgehende Bedeutung geworden.

Seiten