Interpretation "Also sprach Zarathustra" von Friedrich Nietzsche (Seite 2)

Erschreckend ist ebenso, mit welcher Selbstverständlichkeit eintritt, was er vorhergesehen hat und in welcher Weise es sich heute manifestiert. Der Tod Gottes, den Zarathustra ausruft, ist der logische Schlusspunkt eines Prozesses, der sich in der abendländischen Philosophie seit der Aufklärung vollzogen hat und dessen Auswirkungen heute mehr denn je zu spüren sind. Jener Gott, der einst alle Kräfte in der Hand hatte, muss sie nun ihrer Unbändigkeit überlassen – ein Auseinanderstieben des vorher Festgefügten und Geordneten ist die Folge. Nichts anderes besagt das Wort von der Umwertung aller Werte: der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen, nachdem ihm die Möglichkeit genommen ist, seine Existenz auf einen Gott, auf ein Reich außerhalb der Erde zu gründen. "Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste, und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten als den Sinn der Erde!" Der neue Mensch ist der Mensch in seiner physischen Existenz, der allein dem Sinn der Erde verpflichtet ist, "ein Übergang und ein Untergang", Bewegung ohne sinngebende Stütze, ohne göttliches Zentrum.

Zweierlei sei als Konsequenz dessen genannt: das gewaltige Anschwellen vordergründig sinnstiftender Begriffe, die aber auf nichts anderes mehr verweisen können als auf sich selbst, weil ihre Inhalte längst verloren sind, und die mit dem nächsten Wechsel der Mode von ebensolchen Begriffen abgelöst werden. All dies mündet in dem aufgeblähten Spiel einer in die Ästhetik flüchtenden Industrie des 'Sinn-Konsums', die dem Zwang erlegen ist, ständig Neues anbieten zu müssen, das es, hinterherhastend, sich anzueignen gilt und das sich vom Alten nicht mehr unterscheidet. Ewige Wiederkehr des Gleichen, täglich tausendfach erprobt, in Game-Shows und Videospielen für ein auf Sensationen versessenes Publikum, das sich von seiner eigenen Langeweile ablenken lässt und dazu nur bunt aufgemachte Langeweile benötigt.

Als zweite Konsequenz des Gottesverlustes kann die Hinwendung zur lebenswichtigen Bedeutung der Erde gesehen werden. Sie erscheint heute – Ende des 20. Jahrhunderts, nicht mehr vor, sondern bereits inmitten der ökologischen Katastrophe – dringlicher und bedenkenswerter denn je. Denn wenn auch Nietzsches Forderung nach dem dionysischen Konzept des neuen Menschen, dessen Denken sich der technologischen Auslöschung der Natur entgegenstellt, mittlerweile Allgemeingut sämtlicher esoterischer Erlösungsbewegungen geworden sein mag, so hat sich de facto bislang nur wenig geändert: immer brutaler wird die Zerstörung des Lebensraumes, die Selbstzerstörung des Menschen, der sich von einem Denken nicht lösen kann, das in (finanziell) rechenbaren Dimensionen der Verwertung gefangen ist.

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