Interpretation "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)" von Rainer Maria Rilke (Seite 2)

Sinneswahrnehmungen und Synästhesie

Sinneswahrnehmungen sind dementsprechend ein zentrales Motiv der ‚Aufzeichnungen’ und werden von Beginn an thematisiert: Der Neuankömmling sieht bei seiner Ankunft (AZ 1), dann hört er (AZ 2 und 3), dann lernt er sehen (AZ 4 und 5), um dann in einen Schaffensprozess (Schreiben) einzutreten, der sich, wenngleich grundsätzlich gescheitert, am Ende der Aufzeichnungen zumindest genau darin konkretisiert haben wird.

Maltes Schilderungen der ihn ängstigenden und erdrückenden Stadt werden vor allem lebendig durch die vielen Gerüche, die dieser Stadt anhaften und die Synästhesien, die diese Gerüche produzieren: es riecht nach Armut, Elend und Angst; eine Gasse beginnt zu riechen, das Kleinkind im Kinderwagen atmet im Schlaf all diese Gerüche ein, Schulkinder harren aus in Kammern voll grauriechender Kälte; vielerlei Gerüche werden wahrgenommen, zumeist unangenehme. Und auch die Menschen agieren synästhetisch: „»Mama riecht«, [...] »da müssen wir immer alle still sein, sie riecht mit den Ohren«, dabei aber stand sie selbst mit hochgezogenen Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.“ (AZ 42)

Die zwei Gesichter der Großstadt

Ein weiteres zentrales Motiv ist die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Großstadt“ als jenem bedrohlichen Wesen, das den Heimatflüchtling zwar zunächst aufnimmt, dann aber verwirrt und zerstört mit der Fülle und der Ausweglosigkeit der Lebensereignisse.

Der Beginn der ‚Aufzeichnungen’ erinnert übrigens sehr an den Anfang von Rilkes erst posthum veröffentlichter Erzählung „Ewald Tragy“, denn beide Protagonisten lassen ihre Heimat hinter sich und kommen in eine große Stadt, in der sie beide unvermittelt und mit einem ambivalenten Gefühl von Bewunderung und Angst ihre ersten Eindrücke sammeln und in der und an der sie schließlich im Kleinen wie im Großen scheitern. Auch wenn es sich um sehr unterschiedliche Texte handelt, sind die Parallelen in dem, was den beiden Hauptfiguren widerfährt, doch unübersehbar.

Charakteristisch ist vor allem in den „Aufzeichnungen“, und dort vor allem im ersten Teil, ein deutlicher Wechsel von frühlingshaften Empfindungen und Beschreibungen, zuweilen auch Ausgelassenem (Fasching), die immer wieder mit Herbststimmungen und den „Fortgeworfenen“, den Verlierern der neuen Zeit, konfrontiert werden. Auf diese Weise werden die zwei Seiten einer Medaille beleuchtet, mal nacheinander, mal gleichzeitig, mal Segen, zumeist aber Fluch, denn der Fortschritt geht Hand in Hand mit der Industrialisierung, die wiederum die Landflucht nach sich zieht und das Industrieproletariat begründet. Eine solch kritische Haltung gegenüber den großen Städten der neuen Zeit und den damit verbundenen sozialen Problemen klingt bereits im dritten Teil des Stunden-Buches (1905) an und wird auch in den beiden 1923 veröffentlichten Spätwerken, den „Duineser Elegien“ (vgl. die „Leidstadt“ der 10. Elegie) und den „Sonetten an Orpheus“ wieder aufgegriffen, wo die Maschinengeräusche in die orphische Welt eindringen: „Hörst du das Neue, Herr,“, fragt das lyrische Ich und offenbart kurz darauf: „Sieh, die Maschine:/wie sie sich wälzt und räucht/und uns entstellt und schwächt.“ (Sonette, I 18; vgl. dazu auch II 10).

Seiten