Interpretation "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)" von Rainer Maria Rilke (Seite 4)

Mystik und Übersinnliches

Die Beschäftigung mit Mystischem und Übersinnlichem wird zunehmend zu einer Konstante in Rilkes Werk und ist in den „Aufzeichnungen“ eng an die Erinnerung an Kindheit, Jugend und dänische Heimat gebunden.

Malte erzählt zum einen von zwei weiblichen Wiedergängerinnen (beides seine Vorfahren) und zum anderen von zwei Begebenheiten, in denen belebte Dinge eine Rolle spielen.

Bei den Wiedergängerinnen handelt es sich einmal um die über 150 Jahre zuvor im zweiten Kindbett verstorbene Christine Brahe, die bei einer Familienzusammenkunft auf Urnekloster (AZ 15) den 12-13jährigen Malte mehrmals mit ihren Erscheinungen verwundert, ohne ihn deshalb aber ernsthaft zu ängstigen oder gar zu traumatisieren. Dieselbe Christine Brahe ist es auch, die zusammen mit Maltes Cousin Erik in der Galerie von Urnekloster nach ihrem Bild (ihrem Gesicht, ihrer Identität) sucht, um sich zu sehen, weil sie, wie Erik Malte zuflüstert, in einem Spiegel kein Spiegelbild hat (AZ 34). Diese Episode kann durchaus verstanden werden als Gegenstück zu Maltes eigener Erfahrung mit dem Spiegel, der plötzlich ein bedrohliches Eigenleben entwickelt, nachdem sich Malte in verschiedenen Verkleidungen darin betrachtet hat (AZ 32).

Die zweite Wiedergängerin ist Ingeborg, die als unsichtbare, aber spürbare Wiedergängerin kurz nach ihrer eigenen Beerdigung an der Kaffeetafel der Verwandtschaft erscheint (AZ 28). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Figur des Großvaters Brahe, dessen Eigenart es ist, Dinge außerhalb ihrer zeitlichen Linearität zu erzählen und wohl auch zu erleben. Da dieser Großvater just in den beiden Aufzeichnungen in Erscheinung tritt, in denen die Wiedergängerinnen erscheinen, lässt er sich durchaus begreifen als Beginn einer Entwicklung, die sich in seinem Enkel Malte fortsetzen und schließlich die engen Grenzen von Zeit und Raum aufbrechen wird.

Ähnlich verhält es sich mit den belebten Dingen, die dem kleinen Malte bereits in einer Zeit begegnen, in der er noch wohlbehütet im Schoß der Familie lebt. Doch selbst hier zeichnet sich bereits ab, wie an sich harmlose Beschäftigungen, wie das Aufheben eines Stiftes vom Boden oder das Betrachten der eigenen Person im Spiegel zu unvorhergesehenen Begegnungen werden können, weil sich zu der eigenen, den Stift unter einem Sessel suchenden Hand plötzlich eine zweite gesellt (AZ 29), oder weil der Spiegel, in dem sich das Kind betrachtet, eine solch erschreckende Belebung erfährt, dass dem kleinen Malte buchstäblich die Sinne schwinden (AZ 32).

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