Ungekürztes Werk "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm (Seite 73)

Spaten ruhen lassen, als sie auf einmal den Deichgraf unter sich gewahrten; seine Worte hatte der Sturm ihnen zugetragen, und er sah wohl, daß mehrere ihm zu antworten strebten; aber er gewahrte nur ihre heftigen Geberden, denn sie standen alle ihm zur Linken, und was sie sprachen, nahm der Sturm hinweg, der hier draußen jetzt die Menschen mitunter wie im Taumel gegeneinander warf, so daß sie sich dicht zusammenscharten. Hauke maß mit seinen raschen Augen die gegrabene Rinne und den Stand des Wassers, das, trotz des neuen Profiles, fast an die Höhe des Deichs hinaufklatschte und Roß und Reiter überspritzte. Nur noch zehn Minuten Arbeit – er sah es wohl – dann brach die Hochflut durch die Rinne, und der Hauke-Haien-Koog wurde vom Meer begraben!

Der Deichgraf winkte einen der Arbeiter an die andere Seite seines Pferdes. ›Nun, so sprich!‹ schrie er, ›was treibt ihr hier, was soll das heißen?‹

Und der Mensch schrie dagegen: ›Wir sollen den neuen Deich durchstechen, Herr! damit der alte Deich nicht bricht!‹

›Was sollt ihr?‹

›Den neuen Deich durchstechen!‹

›Und den Koog verschütten? – Welcher Teufel hat euch das befohlen?‹

›Nein, Herr, kein Teufel; der Gevollmächtigte Ole Peters ist hier gewesen, der hat's befohlen!‹

Der Zorn stieg dem Reiter in die Augen: ›Kennt ihr mich?‹ schrie er. ›Wo ich bin, hat Ole Peters nichts zu ordinieren! Fort mit euch! An euere Plätze, wo ich euch hingestellt!‹

Und da sie zögerten, sprengte er mit seinem Schimmel zwischen sie: ›Fort, zu euerer oder des Teufels Großmutter!‹

›Herr, hütet Euch!‹ rief einer aus dem Haufen und stieß mit seinem Spaten gegen das wie rasend sich geberdende Tier; aber ein Hufschlag schleuderte ihm den Spaten aus der Hand, ein anderer stürzte zu Boden. Da plötzlich erhob sich ein Schrei aus dem übrigen Haufen, ein Schrei, wie ihn nur die Todesangst einer Menschenkehle zu entreißen pflegt; einen Augenblick war alles, auch der Deichgraf und der Schimmel, wie gelähmt; nur ein Arbeiter hatte gleich einem Wegweiser seinen Arm gestreckt; der wies nach der Nordwestecke der beiden Deiche, dort, wo der neue auf den alten stieß. Nur das Tosen des Sturmes und das Rauschen des Wassers war zu hören. Hauke drehte sich im Sattel: was gab das dort? Seine Augen wurden groß: ›Herrgott! Ein Bruch! Ein Bruch im alten Deich!‹

›Euere Schuld, Deichgraf!‹ schrie eine Stimme aus dem Haufen: ›Euere Schuld! Nehmt's mit vor Gottes Thron!‹

Haukes zornrotes Antlitz war totenbleich geworden; der Mond, der es beschien, konnte es nicht bleicher machen; seine Arme hingen schlaff, er wußte kaum, daß er den Zügel hielt.

Aber auch das war nur ein Augenblick; schon richtete er sich auf, ein hartes Stöhnen brach aus seinem Munde; dann wandte er stumm sein Pferd, und der Schimmel schnob und raste ostwärts auf dem Deich mit ihm dahin. Des Reiters Augen flogen scharf nach allen Seiten; in seinem Kopfe wühlten die Gedanken: Was hatte er für Schuld vor Gottes Thron zu tragen? – Der Durchstich des neuen Deiches – vielleicht, sie hätten's fertig gebracht, wenn er sein Halt nicht gerufen hätte; aber – es war noch eins, und es

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