Interpretation "Der Schimmelreiter und Erzählungen" von Theodor Storm (Seite 3)

Man würde durchaus fehlgehen, wenn man in Aquis submersus in der freilich die bestehende Sitte außer acht lassenden Hingebung des Paares die Schuld der Dichtung suchen wollte [...]. Die Schuld, wenn man diese Bezeichnung beibehalten will, liegt auf der anderen Seite, hier auf dem unerbittlichen Geschlechterhasse, dort auf dem Übermute eines Bruchteils der Gesellschaft, der, ohne Verdienst auf die irgendwie von den Vorfahren eroberte Ausnahmestellung pochend, sich besseren Blutes dünkt und so das menschlich Schöne und Berechtigte mit der ererbten Gewalt zu Boden tritt. Nicht zu übersehen ist, daß es eben diese feindliche Gewalt ist, die das Paar einander fast blindlings in die Arme treibt.

Auf ein italienisches Motiv geht Zur Chronik von Grieshuus zurück (1883/84), diese von Fontane »ein Genre-Bilderbuch ohnegleichen« genannte Novelle. Ein Brudermord und die auf die nachfolgende Generation fortgeerbte Schuld führen zum Untergang eines alten Geschlechts.

Den Stoff zu seiner letzten und umfangreichsten Novelle, dem 1886 begonnenen, 1888 abgeschlossenen Schimmelreiter, hatte Storm bereits in Jugendjahren kennengelernt. Die ursprünglich westpreußische Sage verlegte er in die Meereslandschaft seiner Heimat, deren urwüchsiger Gewalt der Deichgraf Hauke Haien schließlich erliegt. Was ihn jedoch mehr als die Elementarkraft des Meeres zermürbt, ist die feindselige Stimmung, mit der die abergläubische Bevölkerung ihm und seinem fortschrittlichen Deichbau gegenübersteht. Aber auch der Deichgraf ist nicht frei von Schuld. »Wenn die Katastrophe aus der Niederlage des Deichgrafen im Kampfe der Meinungen stärker hervorgehoben würde«, schrieb Storm, »so würde seine Schuld wohl zu sehr zurücktreten. Bei mir ist er körperlich geschwächt, des ewigen Kampfes müde, und so läßt er einmal gehen, wofür er sonst im Kampf gestanden«.

Als die Sturmfluten durch die von ihm unbeachtete Schwachstelle des Deiches hereinbrechen und seine Frau und sein Kind mit sich fortreißen, stürzt er sich mit seinem Schimmel in den Tod, um so die Verantwortung für seine Nachlässigkeit auf sich zu nehmen. Im Aberglauben der Bevölkerung lebt der Deichgraf als Spukgestalt weiter, die bei drohender Sturmflut auf einem Schimmel reitend erscheint – auf diese Weise vollzieht sich die Sühne für seine persönliche Schuld und erweist ihm das Dorf zugleich den zu Lebzeiten verweigerten Respekt.

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