Interpretation "Die Welt von Gestern" von Stefan Zweig (Seite 2)

Viele Veränderungen oder Ungenauigkeiten sind naturgemäß eine Folge der bestehenden zeitlichen Distanz, und der Tatsache, dass Zweig keinerlei Erinnerungshilfen während der Abfassung zur Hand hat, wie er im Vorwort betont. Die 1940 mit wenig Gepäck erfolgte Abreise in die Vereinigten Staaten geht mit dem Zurücklassen seiner Korrespondenz, sogar eines begonnenen Manuskripts einher. Doch schon diese Aussage Zweigs führt auch zu Zweifeln an der ‚Authentizität’ des Erzählten. Denn seine erste Frau Friderike steht ihm als ‚Erinnerungshilfe’ während des Schreibprozesses in den U.S.A. durchaus zur Seite: In ihrer eigenen Autobiographie Spiegelungen des Lebens schreibt sie: “Stefan mietete eine hübsche Villa in Ossining, nicht zuletzt, um mit mir Einzelheiten, deren er sich nicht entsann, für Die Welt von Gestern zu besprechen.” Diese Vernachlässigung wesentlicher (vorzugsweise sehr persönlicher) Fakten ist auffällig in der Darstellung, umso mehr, weil sie dem Leser leicht zugänglich sind. Insbesondere die ‚Unterschlagung’ der beiden Ehefrauen ist nicht nur eine offensichtliche, sondern auch tief greifende Veränderung der dargelegten Lebensumstände.

Dennoch sind die Lebenserinnerungen Zweigs bis zu einem gewissen Grad auch als Lebensbekenntnisse zu sehen. Als Beispiel dafür lassen sich die fundamental veränderten Vorstellungen von der Existenz im Exil nennen. In seiner noch vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Biographie über den französischen Polizeiminister Joseph Fouché formuliert er detailliert, dass er dem Exil als Quelle künstlerischer Produktivität eine fördernde Funktion beimisst und nennt Beispiele berühmter Personen wie Christus und Mohammed als Beleg dafür. Dass diese idealistischen Vorstellungen während seiner eigenen Flucht vor den Nationalsozialisten unhaltbar bleiben, zeigt sich in der Welt von Gestern sehr deutlich. Zweig hebt immer wieder hervor, wie er der Bewegungsfreiheit zwischen Staatsgrenzen nachtrauert. Es wird spürbar, wie sehr er darunter leidet, dass seine „innere Freiheit“ nicht ausreicht, um sich vor sich selbst und der Welt zu behaupten. Immer wieder betont Zweig vor dem ‚Anschluss’ seine Unabhängigkeit von seiner österreichischen Herkunft. Nicht zuletzt seine jüdische Herkunft macht ihn per se zu einem Weltbürger, einem Kosmopoliten, der ‚überall’ zu Hause sein kann, so Zweig. Kurz vor seiner Abreise nach England schreibt er in einem Brief an seinen Freund Joseph Gregor, dass er es für sinnvoll hält, die eigene Heimat zu verlassen: „Auch die Bäume blühen besser, wenn man sie von der Stelle wegsetzt, wo sie schon alle Kraft ausgesogen haben,“ so Zweig. In seinen Lebenserinnerungen revidiert er diese Anschauungen und stellt fest, dass „man gerade die wichtigsten Empfindungen erst versteht, sobald man sie selbst durchlitten hat. [...] Nein, am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, dass man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“

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