Interpretation "Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam" von Stefan Zweig

„Sie schreiben damit gewissermaßen den Mythus unserer Existenz...“ (Thomas Mann am 8. November 1933 an Stefan Zweig)

Ein großer Teil des zeitgenössischen Erfolgs von Stefan Zweig beruht auf seinen Biographien. Unter anderem stellt er die Schottenkönigin Maria Stuart, den französischen Polizeiminister Joseph Fouché, den Seefahrer Magellan und den Philosophen Montaigne dar. Sein Werk über den Humanisten Erasmus von Rotterdam wird 1934 das erste Buch Zweigs, das vom Herbert Reichner-Verlag in Wien veröffentlicht wird – nachdem eine Auseinandersetzung mit Anton Kippenberg zum Bruch mit dessen Insel-Verlag geführt hat. Die Affäre ist eines der ersten Anzeichen für die vielen folgenden Probleme, mit denen sich Zweig ab den dreißiger Jahren konfrontiert sieht. Als jüdischer Schriftsteller wird es für ihn immer schwieriger, seine deutschsprachige Leserschaft zu erreichen. Insofern nutzt er eine seiner letzten Veröffentlichungen, bevor seine Bücher endgültig vom Buchmarkt verschwinden, bewusst, um Kritik am Nationalsozialismus zu üben.

Zweig begeistert sich generell für Geschichte und für das Leben historisch einflussreicher Persönlichkeiten. Er versucht zu rekonstruieren, weshalb sie zu so bedeutenden Figuren avancieren und welche Motive sie zu ihren weitreichenden Handlungsweisen veranlassen. Oft werden Zweigs historische Studien zusätzlich von zeitgenössischen Problematiken angestoßen: für den Erasmus gilt dies in besonderem Maße. Den Kontext der Zeitgeschichte hält er für „der unseren vergleichbar“, womit er auf die folgenreichen sozialen und politischen Umbrüche wie auch die technischen Neuerungen zur Wende vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert anspielt. Seine Auseinandersetzung mit der vor vierhundert Jahren stattgefundenen Reformation ist offenbar auch eine Auseinandersetzung mit dem fortwährenden Strukturwandel seit der Industrialisierung und insbesondere dessen gesellschaftlichen Implikationen. Diese Parallele zieht Zweig selbst häufig im Briefwechsel mit seinem Freund Romain Rolland: Am 11. November 1932 schreibt er: „Es wird zeit unseres Lebens nicht enden, wir sind in eine Epoche der Gewalt geraten. [...] Erasmus / Luther, wir und die Gewalttätigen.“ „Mein Freund Erasmus sah vor 400 Jahren alles voraus“, meint er am 10. Juni 1934 und ahnt scheinbar selbst den sich anbahnenden Zweiten Weltkrieg (!).

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