Literaturepoche Gegenwart: 1968 bis heute (Seite 10)
Weitere Themen der literarischen Gegenwart sind neben der nicht abreißenden Beschäftigung mit formalen Experimenten (Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Bert Papenfuß, Kurt Drawert (1956) Reinhard Jirgl (1953)) oder Erzählalternativen ohne Erzählinstanz und lineares Erzählen, wie sie etwa von Alban Nikolai Herbst (1955) in seinen Anderswelt-Romanen entwickelten wurden, beispielsweise die Rückkehr religiöser Sujets bei Autoren wie Ralf Rothmann und Sibylle Lewitscharoff. Eine andere Richtung ist die Thematisierung von Fremdheitserfahrungen und kulturellen Identitäten in der Literatur deutschschreibender, aber nicht deutschstämmiger Literaten (Feridun Zaimoğlu (1964) Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, 1995; Rafik Schami (1946) Das Schaf im Wolfspelz, 1982, Die Sehnsucht fährt schwarz, 1988; Yōko Tawada (1960) Wo Europa anfängt, 1991; Wladimir Kaminer (1967) Russendisko, 2000); meist zusammengefasst unter den Stichworten „Interkulturelle Literatur“ oder „Migrationsliteratur“. Zudem werden neue Gefahren wie Terrorismus (Josef Haslinger (1955) Opernball, 1995) aber auch Gefährdungen des Alltags und des Materialismus (Roland Koch (1959) Paare, 2000) verarbeitet. Ebenfalls zu erwähnen ist die um sich greifende Verschmelzung der Literatur mit Formen der Gebrauchs- und Meinungskultur und das Aufgreifen der neuen technischen und gestalterischen Möglichkeiten, die das Internet bietet. Herausragendes Beispiel hierfür ist Kathrin Passig, die neben ihrer journalistischen Tätigkeit auch literarische Texte verfasste und neue kommerzielle und kulturelle Formen wie Weblogs (riesenmaschine.de) für ihr Schaffen adaptierte. Zu nennen ist hier auch die sog. Netzliteratur, die die Technologie der Digitalisierung für literarische Verfahrensweisen ausnutzte, die so nur in diesem Medium möglich sind. Durch Interaktivität, Hypertextstruktur, Intermedialität, Verwendung visueller Reize und weit reichende Verlinkung wurden knoten- oder netzförmige Texte geschaffen, die die konventionelle lineare Erzählweise in der Zeit verlassen und neue Erzählräume eröffnen.
Insgesamt ist die literarische Gegenwart von der markanten Zäsur des Jahres 1968, einer zyklischen Bewegung gegenläufiger Tendenzen – von Politisierung über Subjektivität zu Politisierung und Ästhetisierung – geprägt und kulminiert ab den 90er Jahren in einem Wiedererstarken der Fiktionalität und dem epischen Erzählen sowie einem Nebeneinander an literarischen Themen, Formen und Stilrichtungen.