Literaturepoche Gegenwart: 1968 bis heute (Seite 6)

Eine entschiedene gesellschafts- und kulturkritische Position vertritt gleichsam Botho Strauß (1944); er bleibt allerdings dieser Gesellschaft auf problematische Weise verhaftet, da er trotz einer gewissen Sprachartistik nur eine Reproduktion des Kritisierten bietet und kein neues sprachliches oder inhaltliches Gegenmodell entwirft. Literarische Reaktion auf Zeitgeschichte und gesellschaftliche Veränderungen nehmen dann ab dem Jahr 1989 mit dem Fall der Mauer zu. So ist die Grenzöffnung und das Ende der DDR ein bedeutsames Thema, mit dem sich viele Werke der Erzählliteratur, aber auch Lyrik und das Theater auseinandersetzen. So werden überwiegend bei ostdeutschen Autoren das Ende der DDR und die letzten Jahre dieses Staates behandelt, z. B. in Erich Loests Roman Nikolaikirche (1995) und bei Volker Braun (1939) (Nachruf, 1990), der eine Art Abgesang auf die DDR gestaltet hat. Zudem entbrennt, ausgelöst durch Christa Wolfs Roman Was bleibt (1990), der so genannte Literaturstreit; sie und andere DDR-Schriftsteller werden als Stasispitzel verdächtigt, während der engagierten Literatur vorgeworfen wird, dass sie die Literatur einer ihrer wesentlichen Funktionen, der Autonomie, beraubt hätten. Zur gleichen Zeit wird im deutschen Feuilleton die Forderung nach „dem deutschen Wenderoman“ laut, die so explizit jedoch nicht erfüllt wird. Die Erfahrung der Wende und mehr noch das Verschwinden der DDR steht im Mittelpunkt zahlreicher Prosatexte; u. a. in F. C. Delius’ Die Birnen von Ribbeck (1991), Günter Grass’ Ein weites Feld (1995); Volker Brauns Der Wendehals (1995), in Jens Sparschuhs (1955) Der Zimmerspringbrunnen (1995), Brigitte Burmeisters (1940) Unter dem Namen Norma (1994), Fritz Rudolf Fries’ Die Nonnen von Bratislava (1994), Monica Marons Stille Zeile Sechs (1991), Klaus Schlesingers Trug (2000), Christoph Heins Willenbrock (2000), und Wolfgang Hilbigs Das Provisorium (2000). Dabei sind die Schriftsteller haupsächlich an der Frage interessiert, wie die Menschen mit den neuen Verhältnissen zurecht kommen und ob und wie Ängste und Hoffnungen erfüllt werden. Großen Erfolg verzeichnete Ingo Schulze (1962) mit seinem Roman Simple Storys (1998), in dem Zerfallserscheinungen nach der Wende thematisiert werden. Die Wende und das Leben in der DDR werden jedoch nicht nur in ernsten und tragischen Texten dargestellt, sondern auch ironisch-komisches Erzählen kann in hohem Maß dazu beitragen, solche Erfahrungen literarisch vermittelbar zu machen, zu erkennen bei Jens Sparschuh und Volker Braun und vor allem bei Thomas Brussigs (1965) Helden wie wir (1995) und seiner Komödie vom DDR-Alltag Am kürzeren Ende der Sonnenallee (2000). Das deutsch-deutsche Leben nach Ende der Teilung und die nun wieder mögliche Suche nach Erinnerungen im jeweils anderen Landesteil wird hauptsächlich von westdeutschen Schriftstellern (Thomas Hettche (1964) NOX, 1995; Jürgen Becker (1932) Aus der Geschichte der Trennungen, 1999; Michael Kumpfmüller (1961) Hampels Fluchten, 2000) gestaltet.

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