Literaturepoche Gegenwart: 1968 bis heute (Seite 4)

Zeitgeschichtlicher Einfluss auf die lyrische Darstellung ist in der „Poesie der Provinz“ zu erkennen. Als repräsentativ für diese Dichtung können Autoren der Wiener Gruppe (Ernst Jandl (1925–2000), Oswald Wiener (1935), Konrad Bayer (1932-1964), Gerhard Rühm (1930)) sowie H.C. Artmann (1921-2000), Herbert Achternbusch (1938), und Ludwig Harig (1927) angesehen werden, die zunehmend ein Bewusstsein für Umweltprobleme und regionale Fragen entwickelten. Sie vermieden jedoch eine Verklärung von Heimat und versuchten stattdessen anhand von mundartlichem Sprachmaterial in ihren Gedichten kritisch und mit Veränderungsabsicht auf die Provinz einzuwirken.

Eine größere Gruppe von seit den 70er Jahren entstandenen Prosatexten lässt sich auch unter dem Begriff „Väterliteratur“ zusammenfassen. Darin setzt sich die Nachkriegsgeneration kritisch und distanzierend mit ihren Eltern auseinander, die meist noch die Zeit des NS-Regimes aktiv oder passiv miterlebten. Hierunter fallen Romane und Erzählungen wie Christoph Meckels (1935) Suchbild. Über meinen Vater (1980), Peter Härtlings (1933) Nachgetragene Liebe (1980), Elisabeth Plessens (1944) Mitteilung an den Adel (1976) oder Günter Seuren (1932-2003) Abschied von einem Mörder (1980), aber auch Werke von Schriftstellern, die den Nationalsozialismus aus eigener Erfahrung in jungen Jahren kannten, wie etwa Siegfried Lenz’ (1926) Deutschstunde (1968) oder Walter Kempowskis Tadellöser & Wolff, Deutsche Chronik IV (1971).

Ab etwa 1980 kommt es zur Rückeroberung des Literarischen als Antwort auf das ästhetische Defizit der Erfahrungs- und Subjektivitätsliteratur. Dieser ästhetische Widerstand äußert sich z.B. in der Wiederbelebung traditioneller Gattungen wie der Novelle (Martin Walser (1927); Ein fliehendes Pferd, 1978 oder Bodo Kirchhoff (1948; Ohne Eifer, Ohne Zorn, 1979) oder in einem experimentellen Umgang mit Sprache, dessen Tradition allerdings seit der literarischen Moderne ungebrochen von literarischen Hauptströmungen kontinuierlich von Autoren wie beispielsweise Ernst Jandl und anderen Migliedern der Wiener Gruppe, Helmut Heißenbüttel (1921-1996), Arno Schmidt (1914-1979; Zettels Traum, 1970) oder Friederike Mayröcker (1924) fortgeführt wurde.

Die Beschränkung auf den egozentrierten Wahrnehmungshorizont wurde mit poetischen Mitteln zu entgrenzen versucht und durch das Potential der Phantasie sollte verändernd auf eine vermehrt als beschädigt erlebte subjektive, soziale und gesellschaftliche Welt eingewirkt werden. Dies äußerte sich ebenfalls im Engagement von Schriftstellern zum Ost-West-Konflikt und der atomaren Bedrohung. Auch die Lyrik reagierte auf den Verlust an Sicherheiten und Gewissheiten und spürte den Beschädigungen des Ichs und der Welt nach, die anhand von Beschädigungen der lyrischen Sprache selbst deutlich gemacht wurden. Autoren wie Ingeborg Bachmann, deren zentrales Thema die Entgrenzung des Ichs und die Neukonstituierung von Erfahrungsmöglichkeiten war, sowie Sarah Kirsch (1935; Wintergedichte, 1978; Katzenkopfpflaster, 1978; Erdreich, 1982), Günter Kunert (1929; Abtötungsverfahren, 1980; Stilleben, 1983) oder Michael Krüger (1943; Reginapoly, 1976; Diderots Katze, 1978) fanden dabei eine Formensprache, die ihren Kunstcharakter nicht verleugnete. So werden etwa in den Gedichten Sarah Kirschs Irritationen durch geschichtliche oder soziale Prozesse, technologische Entwicklungen oder gestörte Beziehungen anhand von Bildern aus Natur, Landschaft und Tierwelt als Irritationen des poetischen Prozesses selbst wirksam. Diese Lyriker thematisierten auch Desillusionierungsprozesse, wie z.B. den der intellektuellen Linken bei Hans Magnus Enzensberger. Das Scheitern des Fortschrittglaubens, der Aufklärung und der zunehmenden politischen Ohnmacht wurde anhand der Metapher von Eis, Erstarrung oder gar Eiszeit literarisch umgesetzt, z. B. in Enzensbergers Verserzählung Der Untergang der Titanic (1978). Ein geschichtspessimistisches Denken überwiegt auch in den Gedichten Günter Kunerts, dem er aber das Widerstandspotential der Lyrik entgegensetzt.

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