Literaturepoche Gegenwart: 1968 bis heute (Seite 2)

Den Konflikt zwischen Anpassung an die sozialistische Idee und unabhängigem Schreiben verdeutlicht beispielhaft Christa Wolf (1929), die in den Anfängen der Deutschen Demokratischen Republik eine starke Bindung an diesen Staat zeigte und an den sozialistischen Gesellschaftsentwurf glaubte, sich von diesem aber aufgrund der Desillusion über den realen Alltag und die aktuelle Politik distanzierte und ihre eigene literarische Stimme und moralische Position suchte. Sie war von der utopischen Funktion der Literatur überzeugt, ihrem Potential zur Veränderung und thematisierte z. B. in ihrem Roman Nachdenken über Christa T.(1968) die Suche nach subjektiver Authentizität, nach einer Selbstverwirklichung, die im Alltag der DDR keinen Platz fand. Selbstanalyse und Entfremdungserfahrungen bilden in ihrem Werk eine wichtige Konstante, so auch in Geteilter Himmel (1963), Kindheitsmuster (1976) – hier vor allem autobiographisch motiviert – und Kein Ort. Nirgends. (1979). In den 80er Jahren mehrte sich ihre Einmischung in die Tagespolitik, z.B. in dem auf antiken Mythos zurückgreifenden Roman Kassandra (1983), in Störfall (1987), und in Was bleibt (90), dessen Thema die Erfahrung der Wende ist.

Ein Erstarken des politischen Engagements bei Schriftstellern ist Ende der 60er Jahre auch in der Bundesrepublik zu beobachten: Im Jahr 1968, das geprägt ist von Studentenrevolten und politisch-kultureller Umbruchstimmung, wird von einer antibürgerlichen und politisch links orientierten Gruppe um Hans Magnus Enzensberger (1929) der „Tod der Literatur“ ausgerufen, in dessen Folge literarische Texte nur noch für die gesellschaftliche Revolution funktionalisiert werden sollen, und deren ästhetischer Form keine Beachtung mehr beigemessen werden sollte. Die gesellschaftliche Umbruchstimmung war jedoch schon nach kurzer Zeit verflogen. Die politische und gesellschaftliche Entwicklung ab Mitte der 70er Jahre führte zu einer Normalisierung, die ehemaligen „Revolutionäre“ passten sich an die gesellschaftlichen Institutionen und Normen an und eine Desillusionierung über Realität griff um sich, die nicht unwesentlich durch die zunehmende politische Radikalisierung und die verschärften gesetzlichen Maßnahmen dagegen verschuldet war. Als Konsequenz kam es auch in der Literatur zu einer Entpolitisierung und die Betonung individueller Interessen und Erfahrungen löste das gesellschaftskritische Schreiben ab. In den Mittelpunkt des literarischen Interesses rückte persönliche Erfahrung und Selbstfindung, exemplarisch verdeutlicht etwa in Nicolas Borns (1937-1979) Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976), Peter Handkes Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) oder Bernward Vespers (1938-1971) Roman-Essay Die Reise (1977). Im Zuge einer sich schnell verbreitenden Betroffenheitsliteratur entstanden zudem „Verständigungstexte“ zum Austausch von individuellen Erlebnissen und Schreiben wurde als Selbsterfahrung praktiziert. Diese Literatur der Erfahrung legte großen Wert auf Authentizität. Hierin zeigte sich auch das veränderte Bewusstsein der in der Zeit nach dem Krieg und des Wirtschaftsaufschwung aufgewachsenen Schriftsteller und Intellektuellen, die sich und die öffentlichen Diskurse als gesellschaftlich und medial hergestellt und manipuliert empfanden. In theoretischer Hinsicht trugen hier auch die Ideen der sog. Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bei, als deren führende Denker die Philosophen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer sowie Jürgen Habermas zu nennen sind.

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