Literaturepoche Gegenwart: 1968 bis heute (Seite 3)
Zudem verfassten zahlreiche Autoren wie etwa Thomas Bernhard (1931-1989), Peter Handke (1942), Walter Kempowski (1929), Peter Rühmkorf (1929), Elias Canetti (1905-1994), Max Frisch (1911-1991) oder Günter Grass (1927) autobiographische Texte, die zeitgleich zu einem Boom kommerzieller Autobiographien (z. B. von Hildegard Knef oder Lilli Palmer) auftraten.
Darüber hinaus fand auch eine weitere gesellschaftliche Bewegung, der Feminismus, Eingang in die Literatur dieser Zeit. Zu dieser mit dem Etikett der Frauenliteratur versehenen Kategorie sind sowohl Texte von weiblichen Schrifstellerinnen wie Verena Stefan (1947; Häutungen, 1975) oder Karin Struck (1947-2006; Klassenliebe, 1973) zu zählen, die sich mit spezifisch weiblichen Wahrnehmungsweisen und Lebensläufen auseinandersetzen, als auch die Tendenz, die damit einhergehende kommerzielle Vermarktungsmöglichkeit von Büchern von Frauen über Frauen und für Frauen oder speziellen Frauenbuchverlagen auszunutzen.
Die auf Entdeckung des Ich und Innerlichkeit ausgerichtete Literatur, die meist als „Neue Subjektivität“ bezeichnet wird, ging oft mit einem ästhetischen Defizit einher und kam über ein Kreisen um sich selbst nicht hinaus.
Es gab jedoch auch literarisch ambitionierte und wertvollere Texte, die sich mit Subjekterfahrungen auseinandersetzten. Dabei blieb es nicht bei einer Beschränkung auf das eigene Selbst, sondern es wurde eine Vermittlung eigenen Erlebens und individueller Lebensgeschichte mit Elementen der Zeitgeschichte und deren kritisch-psychologischer Reflexion versucht; es ging dabei um die Mitteilung von Erfahrungen und Entgrenzung des Ichs in einer eigens dafür gefundenen Sprache. Hierunter fallen Romane wie Ingeborg Bachmanns (1926-1973) Malina (1971), Heinrich Bölls (1917-1985) Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) und Brigitte Kronauers (1940) Rita Münster (1983), Peter Handkes Prosaband Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) oder Peter Schneiders (1940) Erzählung Lenz (1973). Eine besondere Stellung nimmt auch das Werk Thomas Bernhards ein. Ähnlich wie bei dem Nobelpreisträger von 1981, Elias Canetti (1905 - 1994), der mit seinen autobiographischen Texten (1977/80/85/2003) und dem Roman Die Blendung (1936) literarischen Weltruhm erzielte, ist sein gesamtes Werk von autobiographischen Motiven und Erfahrungen geprägt. Das Stilmittel der literarischen Anklage und ein Prozess der gleichzeitigen Hervorbringung und Vernichtung durch Sprache machen das im Mittelpunkt seines Schaffen stehende Erleben von Negativität, Hass auf die Welt und Leiden an der Wirklichkeit kunstvoll erfahrbar. (U. a.: Romane: Frost, 1963; Das Kalkwerk, 1970; Der Untergeher, 1983; Holzfällen. Eine Erregung, 1984; Auslöschung. Ein Zerfall, 1986. Erzählung: Wittgensteins Neffe 1982. Dramen: Über allen Gipfeln ist Ruh, 1981; Heldenplatz, 1988.)
In der Lyrik dieser Zeit wird ebenfalls eine Vermittlung individueller Erfahrung mit gesellschaftlichem Zusammenhang angestrebt (F.C.Delius (1943), Yaak Karsunke (1934), Ludwig Fels (1946), Paul Zahl (1944)). Mit diesem Ansinnen versuchten diese Autoren, zu denen auch Erich Fried (1921-1988) zu zählen ist, das ästhetische Problem einer anderen Strömung der damaligen Lyrik, die thematische und gestalterische Banalität, die mit der Konzentration auf alltägliche Dinge als Gegenstand der Dichtung einhergehen kann, zu umgehen. Protagonisten dieser Alltagslyrik wie Nicolas Born, Karin Kiwus (1942) oder Jürgen Theobaldy (1944) richteten sich gegen die etablierte Lyrik eines Gottfried Benn und Paul Celan, forderten eine Abkehr von der bisher üblichen Trennung von Kunst und Leben und proklamierten eine politische Lyrik.