Literaturepoche Jahrhundertwende (Seite 2)

Nicht minder radikal, aber mit einem völlig anderen Gestus unternahm Rilke den Versuch, in seinen Gedichten die Welt zu erfassen. Vom Band Das Stundenbuch (1905) über Das Buch der Bilder (1902/06), Neue Gedichte (1907/08) – die seinen Ruhm begründeten – bis zu den Duineser Elegien (1923) und Sonette an Orpheus (1923) ist seine emotionale, bilder- und klangreiche Lyrik eine dauernde Suche nach dem Wesen der Dinge (sogenannte »Dinggedichte«) und eine Reise in die tiefsten Seelenregionen. Er schuf – hier ist eine Analogie zu Georges 'neuer Form' durchaus zu sehen – eine eigene, neue Mythologie, mit deren Hilfe er die existentiellen Ur-Erfahrungen von Angst und Verzweiflung auslotete und ihre Überwindung als einen Prozeß des Reifens, der Aufhebung individueller Begrenztheit poetisch vorzeichnete.

Um Entgrenzung geht es auch in der Lyrik Richard Dehmels, der die Überwindung der Isoliertheit des Menschen in der erotischen Begegnung von Mann und Frau in seinen Gedichten thematisierte: Erlösungen (1891), Aber die Liebe (1893) Weib und Welt (1896), Zwei Menschen (1903), Die Verwandlungen der Venus (1907). Die sinnliche Liebe und ihre Ekstase erhob er zum religiösen Akt, in dem sich die Weltliebe objektiviert. Aus der Transzendierung des Individuellen folgte für ihn auch ein soziales Pathos, das sich in bekannten Protest-Texten wie Traum eines Armen und Der Arbeitsmann niederschlug.

Eine völlig andere Grenzüberschreitung unternahm Christian Morgenstern. Von Nietzsches Aufforderung zum Spiel mit der Kindlichkeit und der Antroposophie Rudolf Steiners (einer weiteren Neuerer-Gestalt der Epoche) gleichermaßen beeinflußt, entzog er sich mit seinen Galgenliedern (1905, später um die Bände Palmström, Palma Kunkel und Der Gingganz erweitert) allen literarischen Konventionen und schuf ein Werk, in dem Nonsense, Skurrilität und Hintergründigkeit eine faszinierend neue Perspektive auf Sprache und Welt eröffnen.

Detlev von Liliencrons impressionistische Lyrik (Heidegänger, 1891, Nebel und Sonne, 1900, Bunte Beute, 1903) kann ebenfalls als eine Art Verweigerung angesehen werden. Metaphysische Gedanken ließ er in ihr ebenso außen vor wie seelische Erschütterung: mit in der Tat an den Pointillismus erinnernder Technik beschränkte er sich auf das präzise Skizzieren von Landschaften, Szenen und Stimmungen (Die Musik kommt) und auf das – oft frivole – Lob des Genusses (Bruder Liederlich). Dem Impressionismus wird vor allem wegen seines ersten Bandes Ultraviolett (1893) auch Max Dauthendey zugerechnet, in dessen Werken ebenfalls die Erotik eine wichtige Rolle spielt – in Verbindung mit dem Exotischen (Die Acht Gesichter am Biwasee, Novellen, 1911), das für den weitgereisten Poeten nicht nur Requisit war, sondern grenzüberwindende Öffnung zur Welt.

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