Literaturepoche Klassik (Seite 4)

Mit der für ihn charakteristischen Vielseitigkeit und Energie nahm Goethe nun verschiedene Projekte in Angriff, wobei Schillers Rolle als Kunstrichter ihm entscheidende Impulse gab. Seine Dramen Torquato Tasso, das die Künstlerproblematik beispielhaft auslotet, und Iphigenie auf Tauris, vielleicht das klassische deutsche Drama schlechthin, hatte er bereits 1790 bzw. 1787 in die endgültige, versifizierte Form gebracht. Jetzt machte er sich an die Umarbeitung und Vollendung des Faust-Fragments, die sich insgesamt über elf Jahre hinzog und schließlich als Faust. Der Tragödie erster Teil (erschienen 1808) abgeschlossen wurde – zusammen mit dem zweiten, erst kurz vor seinem Tode vollendetem Teil eines der universalsten Bühnenstücke der Weltliteratur.

Ein weiteres großes Werk, das ebenfalls schon in Jugendjahren begonnen worden war, konnte Goethe nun fertigstellen: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795–1796), das die Romantiker später zum Vorbild, zum konkretisierten Ideal ihrer poetischen Vorstellungen erhoben. Dieser Künstler- und Bildungsroman zeichnet die Entwicklung eines bürgerlichen Theaterdichters vom schwärmerischen Jüngling zum anerkannten Geistesaristokraten nach, dessen Sinnsuche mit der Einordnung in das Praktisch-Tätige endet. Daneben schrieb Goethe das bürgerliche Epos Hermann und Dorothea (1797), den Entwurf des Helena-Aktes für Faust II, das symbolische Drama Die natürliche Tochter (1806), verschiedene kunstkritische Traktate (darunter Shakespeare und kein Ende) und übersetzte Voltaires Dramen Mahomet (1799) und Tancred (1800).

1797 zog Schiller von Jena nach Weimar. Hier entstanden, in der letzten Phase seines Lebens, die großen Geschichtsdramen, die seinen internationalen Nachruhm begründet haben: die Wallenstein-Trilogie: Wallensteins Lager, Die Piccolomini, Wallensteins Tod (1800), Maria Stuart (1801), Die Jungfrau von Orleans (1801), Die Braut von Messina (1803) und Wilhelm Tell (1802/04) sowie das Fragment Demetrius (1815 gedruckt). In ihnen brachte er die deutsche Tragödie auf ein bis dahin nicht erreichtes Niveau; seine Werke beeinflußten das dramatische Schaffen des gesamten 19. Jahrhunderts. In der Polarität von Freiheit und historischem Pessimismus (»Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären«) zeichnete er ein dualistisches Menschenbild, dessen Tragik im Konflikt zwischen sittlicher Entscheidung und äußerer Notwendigkeit das Dilemma unserer modernen Welt spiegelt.

1805 starb Friedrich Schiller, Goethe wandte sich dem Jenaer Kreis der Romantik zu. Der vielleicht folgenreichste Abschnitt in der Geschichte der deutschen Literatur war zu Ende gegangen.

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