Interpretation "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 2)

Der Auslöser für die Katastrophe ist konsequenterweise wieder eine Erniedrigung. Die Rückforderungen Aarons in aller Öffentlichkeit sind für Friedrich vernichtend, noch eben war er – wieder nur eine Verdächtigung – gehänselt worden, ob er denn die Uhr, die er stolz zeigt, bezahlt habe, und dies ausgerechnet in dem Augenblick, als sein Schützling Johannes beim Diebstahl von einem halben Pfund Butter ertappt worden ist: "Er kehrte niedergeschlagen zurück; seine Würde war verletzt, das allgemeine Gelächter schnitt ihm durch die Seele." Dass der Ausbruch von Friedrichs angestauter Wut, die sich bisher höchstens durch "ein paar derbe Zurechtweisungen mit der Faust" Luft verschafft hat, ausgerechnet in dem Juden Aaron ein Opfer findet, ist eine weitere Folge des Zusammentreffens von Friedrichs psychischer Situation mit den gegebenen gesellschaftlichen Strukturen. Für Friedrich ist der Zeitpunkt von Aarons Auftritt durch das Vorangegangene äußerst schmerzlich, zumal dieser auf einer Dorfhochzeit stattfindet und niemandem verborgen bleibt.

Andererseits handelt es sich um einen Juden. Dass diese Gruppe marginalisiert ist und einen niedrigeren Status als die nicht-jüdischen Bewohner der Gegend einnimmt, geht nicht erst aus der Szene selbst hervor, in welcher auch "Packt den Juden! Wiegt ihn gegen ein Schwein!" gerufen wird, obwohl Aarons Forderungen völlig legitim sind. Schon als Kind wird Friedrich anlässlich eines Vorfalls im Dorf von der Mutter erklärt: "Hat er dem Aaron Geld genommen, so hat ihn der verfluchte Jude gewiß zuvor darum betrogen. Hülsmeyer ist ein ordentlicher angesessener Mann, und die Juden sind alle Schelme." Der gesellschaftliche Druck führt dazu, dass die benachteiligten Gruppen sich nicht etwa solidarisch zueinander verhalten, sondern im Gegenteil die eigene Ohnmacht an den anderen, ebenfalls Schwachen, versuchen zu relativieren.

So bedeutet Aarons Versuch, seine Schulden einzutreiben, für Friedrich den Höhepunkt der Schmach. Während er seinem Rivalen Wilm, der es als einziger "wagte[,] im Bewußtsein seiner Kraft und guter Verhältnisse ihm die Spitze zu bieten", nicht beikommen kann, ist die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung gegenüber einem als 'minderwertig' wahrgenommenen Menschen so gesenkt, dass an diesem Punkt von Friedrichs Biographie der Mord nur als folgerichtig gesehen werden kann.

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