Interpretation "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff (Seite 3)

Mit sparsamen Mitteln und höchster Präzision entfaltet Annette von Droste-Hülshoff dieses Sittengemälde vor den Augen des Lesers. Um gut ein halbes Jahrhundert nimmt sie vorweg, was einer der zentralen programmatischen Punkte des Naturalismus sein wird: die Bedeutung des Milieus für die charakterliche Entwicklung und das Handeln jedes Menschen. Die Ansiedlung des Geschehens in der untersten Gesellschaftsschicht, die Verwahrlosung, der Alkoholismus, die Unentrinnbarkeit des Geschehens – all das sind Elemente, die in den Dramen eines Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf wiederkehren werden.

Eine eigene, für die Autorin charakteristische Rolle spielt dagegen (es klingt wie ein Wortspiel) die Natur. Annette von Droste-Hülshoff kann – mit Sicherheit zu Recht – als Naturlyrikerin par excellence bezeichnet werden. Was immer diese Bezeichnung im einzelnen aussagen mag, sie bezieht sich auf ein Merkmal ihres Œuvres, das sie in eine Reihe mit Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann und Peter Huchel stellt: Natur und ihre Erscheinungen sind nie bloßer Hintergrund, nie bloße Träger von Stimmungen, nie bloß Symbole: sie sind wesenhaft, sind am Weltgeschehen beteiligt, besitzen geheimnisvolle Macht. Es ist also kein Zufall, dass die Erzählung nicht nach einem Menschen oder einem inhaltlichen Aspekt benannt ist, sondern nach dem Baum, der Zeuge der Bluttat ist. Die in der Inschrift enthaltene Prophezeiung erfüllt sich; überhaupt ereignen sich alle Todesfälle im Brederholz, das so zu einem Ort des Unheimlichen und Bedrohlichen wächst. Und doch wäre es falsch, die Rolle der Natur als Richterin, gar als Rächerin überzubewerten. Alle Geschehnisse bleiben rational erklärbar; der Wald und die stürmische Nacht haben Bezug zu den Ereignissen, treten jedoch nie als selbständige Mächte auf. Nichts Übernatürliches spielt sich ab, sondern das Drama eines Menschen, das von der Natur einen besonderen, magischen Rahmen erhält. In der Koinzidenz von individuellem Schicksal und Naturgegebenheiten kann und muss ein 'Sinn' vermutet werden, etwas Sinnhaftes, das über die Grenzen des empirisch Fassbaren hinausgeht. Allerdings ist die – oft vorgenommene – Übertragung eines höheren Richteramtes auf die Natur eine Über-, wenn nicht gar Fehlinterpretation. Die Natur ist in dieser Erzählung weder eine handelnde noch eine die Handlung bestimmende Instanz.

Das zeigt mit aller Deutlichkeit die Konzeption des Textes. Bei allem Furchtbaren, das sich ereignet, bleibt eine Distanz zum Geschehen und den Personen bewahrt; obwohl der Stoff sich gut dazu eignet, vermeidet die Autorin jegliche Nähe zur Schauergeschichte. Kühl, sachlich, oft mit genauen Datums- und Uhrzeitangaben betont der Text seinen dokumentarischen Anspruch; es gibt keine echten Sympathieträger, dafür aber auch keine ausgesprochenen Bösewichte, und über die inneren Regungen der Personen erfährt der Leser nur soviel, wie er als guter Beobachter aus dem Wahrnehmbaren selbst erschließen könnte.

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