Ausführliche Biographie Friedrich Dürrenmatt (1921 – 1990) (Seite 2)

Entscheidend für die literarische Inspiration Dürrenmatts ist zu dieser Zeit die Lektüre der von Weltschmerz und Verlassenheit geprägten Werke Georg Büchners. Nach einem Umtrunk mit Freunden am Heiligen Abend 1942 kommt Dürrenmatt auf dem Nachhauseweg am Gedenkstein des 1836 in Zürich verstorbenen Dichters vorbei und beschließt, noch auf ein Glas Gin in ein Café einzukehren. Dort schreibt er unter dem Titel Weihnachten seine erste Geschichte in ein Notizbuch: „Es war Weihnacht. Ich ging über die weite Ebene. Der Schnee war wie Glas. Es war kalt. Die Luft war tot. Keine Bewegung, kein Ton. Der Horizont war rund. Der Himmel schwarz. Die Sterne gestorben. Der Mond gestern zu Grabe getragen. Die Sonne nicht aufgegangen. Ich schrie. Ich hörte mich nicht. Ich schrie wieder. Ich sah einen Körper auf dem Schnee liegen. Es war das Christkind. Die Glieder weiß und starr. Der Heiligenschein eine gelbe gefrorene Scheibe. Ich nahm das Kind in die Hände. Ich bewegte seine Arme auf und ab. Ich öffnete seine Lider. Es hatte keine Augen. Ich hatte Hunger. Ich aß den Heiligenschein. Er schmeckte wie altes Brot. Ich biß ihm den Kopf ab. Alter Marzipan. Ich ging weiter.“

Atmosphärisch angelehnt an Büchners Woyzeck beschreibt die kurze Szene die Einsamkeit und Verzweiflung des jungen Mannes, der den Sinn des Lebens für sich noch nicht hat entdecken können. Ähnlich wie der junge Friedrich mit seinen düsteren Kreuzigungsbildern vermischt der Text des nun 21-Jährigen religiöse und makabre Elemente und versucht, sich damit nicht allein gegen das beschauliche Leben in der Schweiz aufzulehnen. Dürrenmatt rechnet auch mit der christlichen Erziehung im Haus seine Vaters ab. Zwei Themen finden sich in diesem Text, an denen der Autor für den Rest des Lebens festhalten wird: Die Religion kommt als Trost nicht inBetracht, jetzt nicht und nach dem Zweiten Weltkrieg schon gar nicht, dessen historische Gräueltaten auch die Kirche nicht hat verhindern können. Und zweitens: Die drückende Einsamkeit des Menschen angesichts der Sinnlosigkeit der Welt ist nicht zu heilen.

Typisch sind auch die kargen Sätze Dürrenmatts, die sich hier in dem frühesten Prosastück nicht bloß als stilistische Umsetzung des trostlosen Inhalts interpretieren lassen. Dürrenmatt ist aufgewachsen mit dem ländlichen Dialekt des Berner Oberlands; das Hochdeutsch ist nicht die Muttersprache des Autors, sondern angelernt. Die stilistische Einfachheit seines Werks wird er beibehalten, auch nachdem er es als Autor längst zur Virtuosität gebracht hat – was später wohl ein Grund für die Beliebtheit seiner Texte als Schullektüre ist.

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