Ungekürztes Werk "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 107)
denken. Sie sind Ästhetikus, und das ist man nicht ungestraft, am wenigsten in bezug auf die Zunge. Ja, das Ästhetische. Für manchen ist es ein Unglück. Ich weiß davon. Das Haus hier vor uns ist wohl Ihr Schulhaus’? Weiß gestrichen und kein Fetzchen Gardine, das ist immer ’ne preußische Schule. So wird bei uns die Volksseele für das, was schön ist, großgezogen. Aber es kommt auch was dabei heraus! Mitunter wundert’s mich nur, daß sie die Bauten aus der Zeit Friedrich Wilhelms I. nicht besser konservieren. Eigentlich war das doch das Ideal. Graue Wand, hundert Löcher drin und unten großes Hauptloch. Und natürlich ein Schilderhaus daneben. Letzteres das Wichtigste. Schade, daß so was verlorengeht. Übrigens rettet hier der grüne Staketenzaun das Ganze ... Wie heißt doch der Lehrer?«
»Krippenstapel.«
»Richtig, Krippenstapel. Katzler nannte ihn ja während der Sitzung mit einer Art Aplomb. Ich erinnere mich noch, wie mir der Name wohltat, als ich ihn das erstemal hörte. So heißt nicht jeder. Wie kommen Sie mit dem Manne aus?«
»Sehr gut, Herr Superintendent.«
»Freut mich aufrichtig. Aber es muß ein Kunststück sein. Er hat ein Gesicht wie ’ne Eule. Dabei so was Steifleinenes und zugleich Selbstbewußtes. Der richtige Lehrer. Meiner in Quaden-Hennersdorf war ebenso. Aber er läßt nun schon ein bißchen nach.«
Unter diesen Worten waren sie bis an die Pfarre gekommen, in der man, ohne daß ein Bote vorausgeschickt worden wäre, doch schon wußte, daß der Herr Superintendent miterscheinen würde. Nun war er da. Nur wenige Minuten waren seit dem Aufbruch vom Krug her vergangen, die trotz Kürze für Frau Kulicke (eine Lehrerswitwe, die Lorenzen die Wirtschaft führte) ausgereicht hatten, alles in Schick und Ordnung zu bringen. Auf dem länglichen Hausflur, an dessen äußerstem Ende man gleich beim Eintreten die blinkblanke Küche sah, brannten ein paar helle Paraffinkerzen, während rechts daneben, in der offenstehenden Studierstube, eine große Lampe mit grünem Bilderschirm ein gedämpftes Licht gab. Lorenzen schob den Sofatisch, darauf Zeitungen hoch aufgeschichtet lagen, ein wenig zurück und bat Koseleger, Platz zu nehmen. Aber dieser, eben jetzt das große Bild bemerkend, das in beinahe reicher Umrahmung über dem Sofa hing, nahm den ihm angebotenen Platz nicht gleich ein, sondern sagte, sich über den Tisch vorbeugend: »Ah, gratuliere, Lorenzen. Kreuzabnahme; Rubens. Das ist ja ein wunderschöner Stich. Oder eigentlich Aquatinta. Dergleichen wird hier wohl im siebenmeiligen Umkreis nicht oft betroffen werden, nicht einmal in dem etwas herausgepufften Rheinsberg; in Rheinsberg war man für Watteausche Reifrockdamen auf einer Schaukel, aber nicht für Kreuzabnahmen und dergleichen. Und stammt auch sicher nicht aus dem sogenannten Schloß Ihres liebenswürdigen alten Herrn drüben, Riesenkate mit Glaskugel davor. Ach, wenn ich diese Glaskugeln sehe. Und daneben das hier! Wissen Sie, Lorenzen, das Bild hier ruft mir eine schöne Stunde meines Lebens zurück, einen Reisetag, wo ich mit Großfürstin Wera vom Haag aus in Antwerpen war. Da sah ich das Bild in der Kathedrale. Waren Sie da?«
Lorenzen verneinte.
»Das wäre was für Sie. Dieser Rubens im Original, in seiner Farbenallgewalt. Es heißt immer, daß er nur Flamänderinnen hätte malen können. Nun, das wäre wohl