Ungekürztes Werk "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 109)

daß ich eine Hundertfünfzig-Seelen-Gemeinde hätte, sagen wir auf dem ›toten Mann‹ oder in der Tuchler Heide. Sehen Sie, dann wär’ es vorbei, dann wüßt’ ich bestimmt: ›du bist in den Skat gelegt‹. Und das kann unter Umständen ein Trost sein. Die Leute, die Schiffbruch gelitten und nun in einer Isolierzelle sitzen und Tüten kleben oder Wolle zupfen, das sind nicht die Unglücklichsten. Unglücklich sind immer bloß die Halben. Und als einen solchen habe ich die Ehre, mich Ihnen vorzustellen. Ich bin ein Halber, vielleicht sogar in dem, worauf es ankommt; aber lassen wir das, ich will hier nur vom allgemein Menschlichen sprechen. Und daß ich auch in diesem Menschlichen ein Halber bin, das quält mich. Über das andre käm’ ich vielleicht weg.«

Lorenzens Augen wurden immer größer.

»Sehen Sie, da war ich also – verzeihen Sie, daß ich immer wieder darauf zurückkomme –, da war ich also mit siebenundzwanzig im Haag und kam in die vornehme Welt, die da zu Hause ist. Und da war ich denn heut in Amsterdam und morgen in Scheveningen und den dritten Tag in Gent oder in Brügge. Brügge, Reliquienschrein, Hans Memling – so was müßten Sie sehn. Was sollen uns diese ewigen Markgrafen oder gar die faule Grete? Mancher, ich weiß wohl, ist fürs härene Gewand oder zum Eremiten geboren. Ich nicht. Ich bin von der andern Seite; meine Seele hängt an Leben und Schönheit. Und nun spricht da draußen all dergleichen zu einem, und man tränkt sich damit und hat einen Ehrgeiz, nicht einen kindischen, sondern einen echten, der höher hinauf will, weil man da wirken und schaffen kann, für sich gewiß, aber auch für andre. Danach dürstet einen. Und nun kommt der Becher, der diesen Durst stillen soll. Und dieser Becher heißt Quaden-Hennersdorf. Das Dorf, das mich umgibt, ist ein großes Bauern­dorf, aufgesteifte Leute, geschwollen und hartherzig, und natürlich so trocken und trivial, wie die Leute hier alle sind. Und noch stolz darauf. Ach, Lorenzen, immer wieder, wie beneide ich Sie!«

Während Koseleger noch so sprach, erschien Frau Kulicke. Sie schob die Zeitungen zurück, um zwei Kuverts legen zu können, und nun brachte sie den Rotwein und ein Kabarett mit Brötchen. In dünngeschliffene große Gläser schenkte Lorenzen ein, und die beiden Amtsbrüder stießen an »auf bessere Zeiten«. Aber sie dachten sich sehr Verschiedenes dabei, weil sich der eine nur mit sich, der andre nur mit andern beschäf­tigte.

»Wir könnten, glaub’ ich«, sagte Lorenzen, »neben den ›besseren Zeiten‹ noch dies und das leben lassen. Zunächst Ihr Wohl, Herr Superintendent. Und zum zweiten auf das Wohl unsers guten alten Stechlin, der uns doch heute zusammengeführt. Ob wir ihn durchbringen? Katzler tat so sicher und Kluckhuhn und Krippenstapel nun schon ganz gewiß. Aber ich habe trotzdem Zweifel. Die Konservativen – ich kann kaum sagen ›unsere Parteigenossen‹, oder doch nur in sehr bedingtem Sinne –, die Konservativen sind in sich gespalten. Es gibt ihrer viele, denen unser alter Stechlin um ein gut Teil zu flau ist. ›Fortiter in re, suaviter in modo‹, hat neulich einer, der sich auf Bildung ausspielt,

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