Ungekürztes Werk "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 137)

mir immer sehr schön. Aber weil es tagaus, tagein dasselbe war, wollt’ ich doch gern einmal was andres sehen, worauf Susan auch gleich einging, trotzdem es ihr eigentlich verboten war. ›Ei freilich, Komtesse‹, sagte sie, ›da wollen wir nach Martins le Grand.‹ ›Was ist das?‹ fragte ich; aber statt aller Antwort gab sie mir nur ein kleines Mäntelchen um, denn es war schon Spätherbst, so etwa wie jetzt, und dunkelte auch schon. Aus dem, was dann kam, muß ich annehmen, daß es um die fünfte Stunde war. Und so brachen wir denn auf, unsre Straße hinunter, und weil an dem Parkgitter entlang lauter große Röhren gelegt waren, um hier neu zu kanalisieren, so sprang ich auf die Röhren hinauf, und Susan hielt mich an meinem linken Zeigefinger. So gingen wir, ich immer auf den Röhren oben, bis wir an eine Stelle kamen, wo der Park aufhörte. Hier war gerad ein Droschkenstand, und Hafer und Häcksel lagen umher und zahllose Sperlinge dazwischen. In der Mitte von dem allem aber stand ein eiserner Brunnen. Auf den wies Susan hin und sagte: ›Look at it, dear Armgard. There stood Tyburn-Gallows.‹ Und wer so viel gestohlen hatte, wie gerad ein Strick kostete, der wurde da gehängt.«

»Eine merkwürdige Kindermuhme«, sagte Stechlin. »Und erschraken Sie nicht, Komtesse?«

»Nein, von Erschrecken, solange Susan bei mir war, war keine Rede. Sie hätte mich gegen eine Welt verteidigt.«

»Das söhnt wieder aus.«

»Und kurz und gut, wir blieben auf unserm Weg und stiegen alsbald in ein zweirädriges Cab, aus dem heraus wir sehr gut sehen konnten, und jagten die Oxfordstraße hinunter in die City hinein, in ein immer dichter werdendes Straßengewirr, drin ich nie vorher gekommen war und auch nachher nicht wieder gekommen bin. Bloß vor zwei Jahren, als wir auf Besuch drüben waren und ich den alten Plätzen wieder nachging.«

»Ich glaube«, sagte Melusine, »daß du bei diesem zweiten Besuch eine gute Anleihe machst. Denn von dem mit Susan Gesehenen wirst du zurzeit nicht mehr viel zur Verfügung haben.«

»Doch, doch. Und nun hielt unser Hansom-Cab vor einem großen Hause, das halb wie ein Palast und halb wie ein griechischer Tempel aussah und unter dessen Säulengang hinweg wir in eine große, mit vielen hundert Menschen erfüllte Halle traten. Über ihren Köpfen aber lag es wie ein Strom von Licht, und ganz nach hinten zu, wo die Lichtmasse sich zu verdichten schien, standen auf einem Podium zwei in rote Röcke gekleidete Bedienstete mit ein paar großen Behältern links und rechts neben sich, die wie Futterkisten mit weit aufgeklapptem Deckel aussahen.«

»Und nun laß Stechlin raten, was es war.«

»Er braucht es nicht zu raten«, fuhr Armgard fort, »er weiß es natürlich schon. Aber er muß trotzdem aushalten. Denn er hat es selber so gewollt. Also Podium und Rotröcke samt aufgeklappter Kiste links und rechts. Und die hell erleuchtete Uhr darüber zeigte, daß es nur noch eine Minute bis sechs war. An ein Sichherandrängen war nicht zu denken, und so flogen denn die Brief- und Zeitungspakete, die noch mit den letzten Postzügen fort sollten, in weitem Bogen

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