Ungekürztes Werk "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 209)
Deuter.«
»Gewiß. Aber es gibt der Deuter so viele.«
»Ja«, lachte Dubslav, »und wer die Wahl hat, hat die Qual. Aber ich persönlich, ich habe keine Wahl. Denn genauso wie mit dem Körper, so steht es für mich auch mit der Seele. Man behilft sich mit dem, was man hat. Nehm’ ich da zunächst meinen armen, elenden Leib. Da sitzt es mir hier und steigt und drückt und quält mich und ängstigt mich, und wenn die Angst groß ist, dann nehm’ ich die grünen Tropfen. Und wenn es mich immer mehr quält, dann schick’ ich nach Gransee hinein, und dann kommt Sponholz. Das heißt, wenn er gerade da ist. Ja, dieser Sponholz ist auch ein Wissender und ein ›Deuter‹. Sehr wahrscheinlich, daß es klügere und bessere gibt; aber in Ermangelung dieser besseren muß er für mich ausreichen.«
Ermyntrud nickte freundlich und schien ihre Zustimmung ausdrücken zu wollen.
»Und«, fuhr Dubslav fort, »ich muß es wiederholen, genauso wie mit dem Leib, so auch mit der Seele. Wenn sich meine arme Seele ängstigt, dann nehm’ ich mir Trost und Hilfe, so gut ich sie gerade finden kann. Und dabei denk’ ich dann, der nächste Trost ist der beste. Den hat man am schnellsten, und wer schnell gibt, der gibt doppelt. Eigentlich muß man das lateinisch sagen. Ich rufe mir Sponholz, weil ich ihn, wenn benötigt, in ziemlicher Nähe habe; den andern aber, den Arzt für die Seele, den hab’ ich glücklicherweise noch näher und brauche nicht mal nach Gransee hineinzuschicken. Alle Worte, die von Herzen kommen, sind gute Worte, und wenn sie mir helfen (und sie helfen mir), so frag’ ich nicht viel danach, ob es sogenannte ›richtige‹ Worte sind oder nicht.«
Ermyntrud richtete sich höher auf; ihr bis dahin verbindliches Lächeln war sichtlich in raschem Hinschwinden.
»Überdies«, so schloß Dubslav seine Bekenntnisrede, »was sind die richtigen Worte? Wo sind sie?«
»Sie haben sie, Herr von Stechlin, wenn Sie sie haben wollen. Und Sie haben sie nah, wenn auch nicht in Ihrer unmittelbarsten Nähe. Mich persönlich haben diese Worte während schwerer Tage gestützt und aufgerichtet. Ich weiß, er hat Feinde, voran im eignen Lager. Und diese Feinde sprechen von ›schönen Worten‹. Aber soll ich mich einem Heilswort verschließen, weil es sich in Schönheit kleidet? Soll ich eine mich segnende Hand zurückweisen, weil es eine weiche Hand ist? Sie haben Sponholz genannt. Unser Superintendent liegt wohl weit über diesen hinaus, und wenn es nicht eitel und vermessen wäre, würd’ ich eine gnäd’ge Fügung darin zu sehn glauben, daß er an diese sterile Küste verschlagen werden mußte, gerade mir eine Hilfe zu sein. Aber was er an mir tat, kann er auch an andern tun. Er hat eben das, was zum Siege führt; wer die Seele hat, hat auch den Leib.«
Unter diesen Worten war Ermyntrud von ihrem Stuhl an Dubslav herangetreten und neigte sich über ihn, um ihm, halb wie segnend, die Stirn zu küssen. Das Elfenbeinkreuz berührte dabei seine Brust. Sie ließ es eine Weile da ruhen. Dann aber trat sie wieder zurück, und sich zweimal unter hoheitsvollem Gruß verneigend,