Ungekürztes Werk "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 78)

die mit Teppich überdeckte Marmortreppe hinaufstieg und die Klingel zog. Im selben Augenblick, wo Jeserich öffnete, sah Woldemar an des Alten verlegenem Gesicht, daß die Damen aller Wahrscheinlichkeit nach wieder nicht zu Hause waren. Aber eine Verstimmung darüber durfte nicht aufkommen, und so ließ er es geschehen, daß Jeserich ihn bei dem alten Grafen meldete.

»Der Herr Graf lassen bitten.«

Und nun trat Woldemar in das Zimmer des wieder mal von Neuralgie Geplagten ein, der ihm, auf einen dicken Stock gestützt, unter freundlichem Gruß entgegenkam.

»Aber Herr Graf«, sagte Woldemar und nahm des alten Herrn linken Arm, um ihn bis an seinen Lehnstuhl und eine für den kranken Fuß zurechtgemachte Stellage zurückzuführen. »Ich fürchte, daß ich störe.«

»Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Mir hochwillkommen. Außerdem hab’ ich strikten Befehl, Sie, coûte que coûte, festzuhalten; Sie wissen, Damen sind groß in Ahnungen, und bei Melusine hat es schon geradezu was Prophetisches.«

Woldemar lächelte.

»Sie lächeln, lieber Stechlin, und haben recht. Denn daß sie nun schließlich doch gegangen ist (natürlich zu den Berchtesgadens), ist ein Beweis, daß sie sich und ihrer Prophetie doch auch wieder einigermaßen miß­traute. Aber man ist immer nur klug und weise für andre. Die Doktors machen es ebenso; wenn sie sich selber behandeln sollen, wälzen sie die Verantwortung von sich ab und sterben lieber durch fremde Hand. Aber was sprech’ ich nur immer von Melusine. Freilich, wer in unserm Hause so gut Bescheid weiß wie Sie, wird nichts Überraschliches darin finden. Und zugleich wissen Sie, wie’s gemeint ist. Armgard ist übrigens in Sicht; keine zehn Minuten mehr, so werden wir sie hier haben.«

»Ist sie mit bei der Baronin?«

»Nein, Sie dürfen sie nicht so weit suchen. Armgard ist in ihrem Zimmer, und Doktor Wrschowitz ist bei ihr. Es kann aber nicht lange mehr dauern.«

»Aber ich bitte Sie, Herr Graf, ist die Komtesse krank?«

»Gott sei Dank, nein. Und Wrschowitz ist auch kein Medizindoktor, sondern ein Musikdoktor. Sie haben von ihm rein zufällig noch nicht gehört, weil erst vorige Woche, nach einer langen, langen Pause, die Musikstunden wieder aufgenommen wurden. Er ist aber schon seit Jahr und Tag Armgards Lehrer.«

»Musikdoktor? Gibt es denn die?«

»Lieber Stechlin, es gibt alles. Also natürlich auch das. Und sosehr ich im ganzen gegen die Doktorhascherei bin, so liegt es hier doch so, daß ich dem armen Wrschowitz seinen Musikdoktor gönnen oder doch mindestens verzeihen muß. Er hat den Titel auch noch nicht lange.«

»Das klingt ja fast wie ’ne Geschichte.«

»Trifft auch zu. Können Sie sich denken, daß Wrscho­witz aus einer Art Verzweiflung Doktor geworden ist?«

»Kaum. Und wenn kein Geheimnis ...«

»Durchaus nicht, nur ein Kuriosum. Wrschowitz hieß nämlich bis vor zwei Jahren, wo er als Klavierlehrer, aber als ein höherer (denn er hat auch eine Oper komponiert), in unser Haus kam, einfach Niels Wrschowitz, und er ist bloß Doktor geworden, um den Niels auf seiner Visitenkarte loszuwerden.«

»Und das ist ihm auch geglückt?«

»Ich glaube ja, wiewohl es immer noch vorkommt, daß ihn einzelne ganz wie früher Niels nennen, entweder aus Zufall oder auch wohl aus Schändlichkeit. In letzterem Falle sind es immer Kollegen. Denn die

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