Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 25)
Arbeit verstrichen und wie dennoch all ihre Munterkeit, all ihr Leichtsinn sie nicht verlassen habe. Ich gehe so neben ihm hin und pflücke Blumen am Wege, füge sie sehr sorgfältig in einen Strauß und – werfe sie in den vorüberfließenden Strom und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen. Ich weiß nicht, ob ich Dir geschrieben habe, daß Albert hier bleiben und ein Amt mit einem artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist. In Ordnung und Emsigkeit in Geschäften hab ich wenig seinesgleichen gesehen.
Am 12. Aug.
Gewiß, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel, ich habe gestern eine wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied zu nehmen, denn mich wandelte die Lust an, ins Gebürg zu reiten, von daher ich Dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen. »Borg mir die Pistolen«, sagt ich, »zu meiner Reise.« – »Meinetwegen«, sagt er, »wenn du dir die Mühe geben willst, sie zu laden, bei mir hängen sie nur pro forma.« Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: »Seit mir meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun haben.« Ich war neugierig, die Geschichte zu wissen. »Ich hielt mich«, erzählte er, »wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf, hatte ein Paar Terzerolen, ohngeladen, und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten Nachmittage, da ich so müßig sitze, weiß ich nicht, wie mir einfällt: wir könnten überfallen werden, wir könnten die Terzerols nötig haben und könnten – du weißt ja, wie das ist. Ich gab sie dem Bedienten, sie zu putzen und zu laden, und der dahlt mit den Mädchen, will sie erschröcken, und Gott weiß wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt, und schießt den Ladstock einem Mädchen zur Maus hinein, an der rechten Hand, und zerschlägt ihr den Daumen. Da hatt ich das Lamentieren und den Barbierer zu bezahlen obendrein, und seit der Zeit laß ich all das Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht! die Gefahr läßt sich nicht auslernen! – Zwar –« Nun weißt Du, daß ich den Menschen sehr liebhabe bis auf seine Zwar. Denn versteht sich's nicht von selbst, daß jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig ist der Mensch, wenn er glaubt, etwas Übereiltes, Allgemeines, Halbwahres gesagt zu haben, so hört er dir nicht auf, zu limitieren, modifizieren und ab- und zuzutun, bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist. Und bei diesem Anlasse kam er sehr tief in Text, und ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden Gebärde druckt ich mir die Mündung der Pistolen übers rechte Aug an die Stirn. »Pfui«, sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog, »was soll das!« – »Sie ist nicht geladen«, sagt ich. »Und auch so! Was soll's?« versetzt er ungeduldig. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht