Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 26)
sein kann, sich zu erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.«
»Daß ihr Menschen«, rief ich aus, »um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt: das ist törig, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das all heißen? Habt ihr deswegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein.«
»Du wirst mir zugeben«, sagte Albert, »daß gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen aus einem Beweggrunde geschehen, aus welchem sie wollen.«
Ich zuckte die Achseln und gab's ihm zu. »Doch, mein Lieber«, fuhr ich fort, »finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster; aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom schmählichen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswürdigen Verführer aufopfert? Gegen das Mädchen, das in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblütigen Pedanten, lassen sich rühren und halten ihre Strafe zurück.«
»Das ist ganz was anders«, versetzte Albert, »weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreißen, alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird.« – »Ach ihr vernünftigen Leute!« rief ich lächelnd aus. »Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheuet den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, und meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinne, und beides reut mich nicht, denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen: wie man alle außerordentliche Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes würkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien mußte.
Aber auch im gemeinen Leben ist's unerträglich, einem Kerl bei halbweg einer freien, edlen, unerwarteten Tat nachrufen zu hören: ›Der Mensch ist trunken, der ist närrisch.‹ Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen« – »Das sind nun wieder von deinen Grillen«, sagte Albert. »Du überspannst alles und hast wenigstens hier gewiß unrecht, daß du den Selbstmord, wovon wir jetzo reden, mit großen Handlungen vergleichst, da man es doch für nichts anders als eine Schwäche halten kann; denn freilich ist es leichter, zu sterben als ein qualvolles Leben standhaft zu ertragen.«
Ich war im Begriffe abzubrechen, denn kein Argument in der Welt bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, da ich aus ganzem Herzen rede. Doch faßt ich mich, weil ich's schon öfter gehört und mich öfter darüber geärgert hatte, und versetzte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: »Du nennst das Schwäche! Ich bitte dich, laß dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk, das unter dem unerträglichen Joche eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen, wenn es endlich aufgärt und seine Ketten zerreißt? Ein