Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 8)

Brackenburg hat unter dem Singen Klärchen oft angesehen; zuletzt bleibt ihm die Stimme stocken, die Tränen kommen ihm in die Augen, er läßt den Strang fallen und geht ans Fenster. Klärchen singt das Lied allein aus, die Mutter winkt ihr halb unwillig; sie steht auf, geht einige Schritte nach ihm hin, kehrt halb unschlüssig wieder um und setzt sich.

Mutter: Was gibt’s auf der Gasse, Brackenburg? Ich höre marschieren.

Brackenburg: Es ist die Leibwache der Regentin.

Klare: Um diese Stunde? was soll das bedeuten? Sie steht auf und geht an das Fenster zu Brackenburg. Das ist nicht die tägliche Wache, das sind weit mehr! Fast alle ihre Haufen. O Brackenburg, geht! hört einmal, was es gibt! Es muß etwas Besonders sein. Geht, guter Brackenburg, tut mir den Gefallen.

Brackenburg: Ich gehe! Ich bin gleich wieder da! Er reicht ihr abgehend die Hand, sie gibt ihm die ihrige.

Mutter: Du schickst ihn schon wieder weg!

Klare: Ich bin neugierig. Und auch, verdenkt mir’s nicht. Seine Gegenwart tut mir weh. Ich weiß immer nicht, wie ich mich gegen ihn betragen soll. Ich habe unrecht gegen ihn, und mich nagt’s am Herzen, daß er es so lebendig fühlt. – Kann ich’s doch nicht ändern!

Mutter: Es ist ein so treuer Bursche.

Klare: Ich kann’s auch nicht lassen, ich muß ihm freundlich begegnen. Meine Hand drückt sich oft unversehens zu, wenn die seine mich so leise, so liebevoll anfaßt. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich ihn betrüge, daß ich in seinem Herzen eine vergebliche Hoffnung nähre. Ich bin übel dran. Weiß Gott, ich betrüg ihn nicht. Ich will nicht, daß er hoffen soll, und ich kann ihn doch nicht verzweifeln lassen.

Mutter: Das ist nicht gut.

Klare: Ich hatte ihn gern und will ihm auch noch wohl in der Seele. Ich hätte ihn heiraten können und glaube, ich war nie in ihn verliebt.

Mutter: Glücklich wärst du immer mit ihm gewesen.

Klare: Wäre versorgt und hätte ein ruhiges Leben.

Mutter: Und das ist alles durch deine Schuld verscherzt.

Klare: Ich bin in einer wunderlichen Lage. Wenn ich so nachdenke, wie es gegangen ist, weiß ich’s wohl und weiß es nicht. Und dann darf ich Egmonten nur wieder ansehn, wird mir alles sehr begreiflich, wäre mir weit mehr begreiflich. Ach, was ist’s ein Mann! Alle Provinzen beten ihn an, und ich in seinem Arm sollte nicht das glücklichste Geschöpf von der Welt sein?

Mutter: Wie wird’s in der Zukunft werden?

Klare: Ach, ich frage nur, ob er mich liebt; und ob er mich liebt, ist das eine Frage?

Mutter: Man hat nichts als Herzensangst mit seinen Kindern. Wie das ausgehen wird? Immer Sorge und Kummer! Es geht nicht gut aus! Du hast dich unglücklich gemacht! mich unglücklich gemacht!

Klare gelassen: Ihr ließet es doch im Anfange.

Mutter: Leider war ich zu gut, bin immer zu gut.

Klare: Wenn Egmont vorbeiritt und ich ans Fenster lief, schaltet Ihr mich da? Tratet Ihr nicht selbst ans Fenster? Wenn er heraufsah, lächelte, nickte, mich grüßte, war es Euch zuwider? Fandet Ihr Euch nicht selbst in Eurer Tochter geehrt?

Mutter: Mache mir noch Vorwürfe!

Klare gerührt: Wenn er nun öfter die Straße kam und wir wohl fühlten, daß er um meinetwillen den Weg machte, bemerktet Ihr’s nicht selbst mit heimlicher Freude? Rieft Ihr mich ab, wenn ich hinter den Scheiben stand und ihn erwartete?

Mutter: Dachte ich, daß es so weit kommen sollte?

Klare mit stockender Stimme und zurückgehaltenen Tränen: Und wie er uns abends, in den Mantel eingehüllt, bei der Lampe überraschte – wer war geschäftig, ihn zu empfangen, da ich auf meinem Stuhl wie angekettet und staunend sitzen blieb?

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