Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 15)

von meiner Brust!

Und wenn du einen Jüngling rettend lieben,

Das schöne Glück ihm zärtlich bieten willst,

So wende meinem Freunde dein Gemüt,

Dem würd’gern Manne, zu. Er irrt umher

Auf jenem Felsenpfade; such ihn auf,

Weis ihn zurecht und schone meiner.

Iphigenie: Fasse

Dich, Bruder, und erkenne die Gefundne!

Schilt einer Schwester reine Himmelsfreude

Nicht unbesonnene, strafbare Lust.

O nehmt den Wahn ihm von dem starren Auge,

Daß uns der Augenblick der höchsten Freude

Nicht dreifach elend mache! Sie ist hier,

Die längst verlorne Schwester. Vom Altar

Riß mich die Göttin weg und rettete

Hierher mich in ihr eigen Heiligtum.

Gefangen bist du, dargestellt zum Opfer,

Und findest in der Priesterin die Schwester.

Orest:

Unselige! So mag die Sonne denn

Die letzten Greuel unsers Hauses sehn!

Ist nicht Elektra hier, damit auch sie

Mit uns zugrunde gehe, nicht ihr Leben

Zu schwererem Geschick und Leiden friste?

Gut, Priesterin! ich folge zum Altar:

Der Brudermord ist hergebrachte Sitte

Des alten Stammes; und ich danke, Götter,

Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten

Beschlossen habt. Und laß dir raten, habe

Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne;

Komm, folge mir ins dunkle Reich hinab!

Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen,

Bekämpfend die verwandte Brut, verschlingen,

Zerstört sich selbst das wütende Geschlecht;

Komm kinderlos und schuldlos mit hinab!

Du siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab!

Mit solchen Blicken suchte Klytämnestra

Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen;

Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust.

Die Mutter fiel! – Tritt auf, unwill’ger Geist!

Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien,

Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bei,

Dem letzten, gräßlichsten, das ihr bereitet!

Nicht Haß und Rache schärfen ihren Dolch;

Die liebevolle Schwester wird zur Tat

Gezwungen. Weine nicht! Du hast nicht schuld.

Seit meinen ersten Jahren hab ich nichts

Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.

Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht,

Zerreiße diesen Busen und eröffne

Den Strömen, die hier sieden, einen Weg!

Er sinkt in Ermattung.

Iphigenie:

Allein zu tragen dieses Glück und Elend,

Vermag ich nicht. – Wo bist du, Pylades?

Wo find ich deine Hülfe, teurer Mann?

Sie entfernt sich suchend.

Zweiter Auftritt

Orest aus seiner Betäubung erwachend und sich aufrichtend:

Noch einen’ reiche mir aus Lethes Fluten

Den letzten kühlen Becher der Erquickung!

Bald ist der Krampf des Lebens aus dem Busen

Hinweggespült; bald fließet still mein Geist,

Der Quelle des Vergessens hingegeben,

Zu euch, ihr Schatten, in die ew’gen Nebel.

Gefällig laßt in eurer Ruhe sich

Den umgetriebnen Sohn der Erde laben! –

Welch ein Gelispel hör ich in den Zweigen,

Welch ein Geräusch aus jener Dämmrung säuseln? –

Sie kommen schon, den neuen Gast zu sehn!

Wer ist die Schar, die herrlich miteinander

Wie ein versammelt Fürstenhaus sich freut?

Sie gehen friedlich, Alt’ und Junge, Männer

Mit Weibern; göttergleich und ähnlich scheinen

Die wandelnden Gestalten. Ja, sie sind’s,

Die Ahnherrn meines Hauses! – Mit Thyesten

Geht Atreus in vertraulichen Gesprächen,

Die Knaben schlüpfen scherzend um sie her.

Ist keine Feindschaft hier mehr unter euch?

Verlosch die Rache wie das Licht der Sonne?

So bin auch ich willkommen, und ich darf

In euern feierlichen Zug mich mischen.

Willkommen, Väter! euch grüßt Orest,

Von euerm Stamme der letzte Mann;

Was ihr gesät, hat er geerntet:

Mit Fluch beladen stieg er herab.

Doch leichter träget sich hier jede Bürde:

Nehmt ihn, o nehmt ihn in euern Kreis! –

Dich, Atreus, ehr ich, auch dich, Thyesten:

Wir sind hier alle der Feindschaft los. –

Zeigt mir den Vater, den ich nur einmal

Im Leben sah! – Bist du’s, mein

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