Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 24)

Schwerte greifend:

In meiner Gegenwart führt ungestraft

Kein Mann das nackte Schwert.

Iphigenie: Entheiliget

Der Göttin Wohnung nicht durch Wut und Mord!

Gebietet eurem Volke Stillstand, höret

Die Priesterin, die Schwester!

Orest: Sage mir!

Wer ist es, der uns droht?

Iphigenie: Verehr in ihm

Den König, der mein zweiter Vater ward!

Verzeih mir, Bruder! doch mein kindlich Herz

Hat unser ganz Geschick in seine Hand

Gelegt. Gestanden hab ich euern Anschlag

Und meine Seele vom Verrat gerettet.

Orest:

Will er die Rückkehr friedlich uns gewähren?

Iphigenie:

Dein blinkend Schwert verbietet mir die Antwort.

Orest der das Schwert einsteckt:

So sprich! Du siehst, ich horche deinen Worten.

Fünfter Auftritt

Die Vorigen.

Pylades Bald nach ihm Arkas. Beide mit bloßen Schwertern.

Pylades: Verweilet nicht! Die letzten Kräfte raffen

Die Unsrigen zusammen; weichend werden

Sie nach der See langsam zurückgedrängt.

Welch ein Gespräch der Fürsten find ich hier!

Dies ist des Königes verehrtes Haupt!

Arkas:

Gelassen, wie es dir, o König, ziemt,

Stehst du den Feinden gegenüber. Gleich

Ist die Verwegenheit bestraft; es weicht

Und fällt ihr Anhang, und ihr Schiff ist unser.

Ein Wort von dir, so steht’s in Flammen.

Thoas: Geh!

Gebiete Stillstand meinem Volke! Keiner

Beschädige den Feind, solang wir reden.

Arkas ab.

Orest:

Ich nehm es an. Geh, sammle, treuer Freund,

Den Rest des Volkes; harret still, welch Ende

Die Götter unsern Taten zubereiten

Pylades ab.

Sechster Auftritt

Iphigenie. Thoas. Orest.

Iphigenie:

Befreit von Sorge mich, eh ihr zu sprechen

Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist,

Wenn du, o König, nicht der Billigkeit

Gelinde Stimme hörest; du, mein Bruder,

Der raschen Jugend nicht gebieten willst.

Thoas:

Ich halte meinen Zorn, wie es dem Ältern

Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit

Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn

Und dieser Bruder bist?

Orest: Hier ist das Schwert,

Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug.

Dies nahm ich seinem Mörder ab und bat

Die Himmlischen, den Mut und Arm, das Glück

Des großen Königes mir zu verleihn

Und einen schönern Tod mir zu gewähren.

Wähl einen aus den Edeln deines Heers

Und stelle mir den Besten gegenüber!

So weit die Erde Heldensöhne nährt,

Ist keinem Fremdling dies Gesuch verweigert.

Thoas:

Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie

Dem Fremden hier gestattet.

Orest: So beginne

Die neue Sitte denn von dir und mir!

Nachahmend heiliget ein ganzes Volk

Die edle Tat der Herrscher zum Gesetz.

Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit,

Laß mich, den Fremden, für die Fremden kämpfen!

Fall ich, so ist ihr Urteil mit dem meinen

Gesprochen; aber gönnet mir das Glück

Zu überwinden, so betrete nie

Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick

Hülfreicher Liebe nicht begegnet, und

Getröstet scheide jeglicher hinweg!

Thoas:

Nicht unwert scheinest du, o Jüngling, mir

Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein.

Groß ist die Zahl der edeln, tapfern Männer,

Die mich begleiten; dich ich stehe selbst

In meinen Jahren noch dem Feinde, bin

Bereit, mit dir der Waffen Los zu wagen.

Iphigenie: Mitnichten! Dieses blutigen Beweises

Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand

Vom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick.

Der rasche Kampf verewigt einen Mann:

Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.

Allein die Tränen, die unendlichen,

Der überbliebnen, der verlaßnen Frau

Zählt keine Nachwelt, und der Dichter schweigt

Von tausend durchgeweinten Tag’ und Nächten,

Wo eine stille Seele den verlornen,

Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich

Zurückzurufen bangt und sich verzehrt.

Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt,

Daß der Betrug nicht eines Räubers mich

Vom sichern Schutzort reiße, mich der Knechtschaft

Verrate. Fleißig hab ich sie befragt,

Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen

Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz.

Sieh hier an seiner rechten Hand das Mal

Wie von drei Sternen, das am Tage schon,

Da er geboren ward, sich zeigte, das

Auf schwere Tat, mit dieser Faust zu üben,

Der Priester deutete. Dann überzeugt

Mich doppelt diese Schramme, die ihm hier

Die Augenbraune spaltet. Als ein Kind

Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig

Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen.

Er schlug auf einen Dreifuß auf – Er ist’s –

Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters,

Soll ich das innre Jauchzen meines Herzens

Dir auch als Zeugen der Versichrung nennen?

Thoas:

Und hübe deine Rede jeden Zweifel

Und bändigt ich den Zorn in meiner Brust.

So würden doch die Waffen zwischen uns

Entscheiden müssen; Frieden seh ich nicht.

Sie sind gekommen, du bekennest selbst,

Das heil’ge Bild der Göttin mir zu rauben.

Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an?

Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge

Den fernen Schätzen der Barbaren zu,

Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern;

Doch führte sie Gewalt und List nicht immer

Mit den erlangten Gütern glücklich heim.

Orest: Das Bild, o König, soll uns nicht entzweien!

Jetzt kennen wir den Irrtum, den ein Gott

Wie einen Schleier um das Haupt uns legte,

Da er den Weg hierher uns wandern hieß.

Um Rat und um Befreiung bat ich ihn

Von dem Geleit der Furien; er sprach:

“Bringst du die Schwester, die an Tauris’ Ufer

Im Heiligtume wider Willen bleibt,

Nach Griechenland, so löset sich der Fluch.”

Wir legten’s von Apollens Schwester aus,

Und er gedachte dich! Die strengen Bande

Sind nun gelöst; du bist den Deinen wieder,

Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt,

War ich geheilt; in deinen Armen faßte

Das Übel mich mit allen seinen Klauen

Zum letztenmal und schüttelte das Mark

Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh’s

Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu

Genieß ich nun durch dich das weite Licht

Des Tages. Schön und herrlich zeigt sich mir

Der Göttin Rat. Gleich einem heil’gen Bilde,

Daran der Stadt unwandelbar Geschick

Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist,

Nahm sie dich weg, dich Schützerin des Hauses;

Bewahrte dich in einer heil’gen Stille

Zum Segen deines Bruders und der Deinen.

Da alle Rettung auf der weiten Erde

Verloren schien, gibst du uns alles wieder.

Laß deine Seele sich zum Frieden wenden,

O König! Hindre nicht, daß sie die Weihe

Des väterlichen Hauses nun vollbringe,

Mich der entsühnten Halle wiedergebe,

Mir auf das Haupt die alte Krone drücke!

Vergilt den Segen, den sie dir gebracht,

Und laß des nähern Rechtes mich genießen!

Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm,

Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele

Beschämt, und reines, kindliches Vertrauen

Zu einem edeln Manne wird belohnt.

Iphigenie:

Denk an dein Wort, und laß durch diese Rede

Aus einem graden, treuen Munde dich

Bewegen! Sieh uns an! Du hast nicht oft

Zu solcher edeln Tat Gelegenheit.

Versagen kannst du’s nicht; gewähr es bald!

Thoas:

So geht!

Iphigenie: Nicht so, mein König! Ohne Segen,

In Widerwillen scheid ich nicht von dir.

Verbann uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte

Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig

Getrennt und abgeschieden. Wert und teuer,

Wie mir mein Vater war, so bist du’s mir,

Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele.

Bringt der Geringste deines Volkes je

Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück,

Den ich an euch gewohnt zu hören bin,

Und seh ich an dem Ärmsten eure Tracht:

Empfangen will ich ihn wie einen Gott,

Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,

Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden

Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen.

O geben dir die Götter deiner Taten

Und deiner Milde wohlverdienten Lohn!

Leb wohl! O wende dich zu uns und gib

Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück!

Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an,

Und Tränen fließen lindernder vom Auge

Des Scheidenden. Leb wohl! und reiche mir

Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte.

Thoas:

Lebt wohl!

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