Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 20)

mit der Gefahr

Ein enges Bündnis: beide sind Gesellen.

Iphigenie:

Die Sorge nenn ich edel, die mich warnt,

Den König, der mein zweiter Vater ward,

Nicht tückisch zu betrügen, zu berauben.

Pylades:

Der deinen Bruder schlachtet, dem entfliehst du.

Iphigenie:

Es ist derselbe, der mir Gutes tat.

Pylades:

Das ist nicht Undank, was die Not gebeut.

Iphigenie:

Es bleibt wohl Undank; nur die Not entschuldigt.

Pylades:

Vor Göttern und vor Menschen dich gewiß.

Iphigenie:

Allein mein eigen Herz ist nicht befriedigt.

Pylades:

Zu strenge Fordrung ist verborgner Stolz.

Iphigenie:

Ich untersuche nicht, ich fühle nur.

Pylades:

Fühlst du dich recht, so mußt du dich verehren.

Iphigenie:

Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz.

Pylades:

So hast du dich im Tempel wohl bewahrt;

Das Leben lehrt uns, weniger mit uns

Und andern strenge sein; du lernst es auch.

So wunderbar ist dies Geschlecht gebildet,

So vielfach ist’s verschlungen und verknüpft,

Daß keiner in sich selbst noch mit den andern

Sich rein und unverworren halten kann.

Auch sind wir nicht bestellt, uns selbst zu richten;

Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen,

Ist eines Menschen erste, nächste Pflicht:

Denn selten schätzt er recht, was er getan,

Und was er tut, weiß er fast nie zu schätzen.

Iphigenie:

Fast überredst du mich zu deiner Meinung.

Pylades:

Braucht’s Überredung, wo die Wahl versagt ist?

Den Bruder, dich und einen Freund zu retten,

Ist nur ein Weg, fragt sich’s, ob wir ihn gehn?

Iphigenie:

O laß mich zaudern! denn du tätest selbst

Ein solches Unrecht keinem Mann gelassen,

Dem du für Wohltat dich verpflichtet hieltest.

Pylades:

Wenn wir zugrunde gehen, wartet dein

Ein härtrer Vorwurf, der Verzweiflung trägt.

Man sieht, du bist nicht an Verlust gewohnt,

Da du, dem großen Übel zu entgehen,

Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.

Iphigenie:

O trüg ich doch ein männlich Herz in mir,

Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt,

Vor jeder andern Stimme sich verschließt!

Pylades:

Du weigerst dich umsonst; die ehrne Hand

Der Not gebietet, und ihr ernster Wink

Ist oberstes Gesetz, dem Götter selbst

Sich unterwerfen müssen. Schweigend herrscht

Des ew’gen Schicksals unberatne Schwester.

Was sie dir auferlegt, das trage: tu,

Was sie gebeut. Das andre weißt du. Bald

Komm ich zurück, aus deiner heil’gen Hand

Der Rettung schönes Siegel zu empfangen.

Fünfter Auftritt

Iphigenie: allein:

Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen

Seh ich in dringender Gefahr. Doch ach!

Mein eigen Schicksal macht mir bang und bänger.

O soll ich nicht die stille Hoffnung retten,

Die in der Einsamkeit ich schön genährt?

Soll dieser Fluch denn ewig walten? Soll

Nie dies Geschlecht mit einem neuen Segen

Sich wieder heben? – Nimmt doch alles ab!

Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft

Ermattet endlich: warum nicht der Fluch?

So hofft ich denn vergebens, hier verwahrt,

Von meines Hauses Schicksal abgeschieden,

Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen

Die schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen!

Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder

Vom grimm’gen Übel wundervoll und schnell

Geheilt, kaum naht ein lang erflehtes Schiff,

Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten,

So legt die taube Not ein doppelt Laster

Mit ehrner Hand mir auf: das heilige,

Mir anvertraute, viel verehrte Bild

Zu rauben und den Mann zu hintergehn,

Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke.

O daß in meinem Busen nicht zuletzt

Ein Widerwille keime! der Titanen,

Der alten Götter tiefer Haß auf euch,

Olympier, nicht auch die zarte Brust

Mit Geierklauen fasse! Rettet mich

Und rettet euer Bild in meiner Seele!

Vor meinen Ohren tönt das alte Lied –

Vergessen hatt ich’s und vergaß es gern –,

Das Lied der Parzen, das sie

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