Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 21)

grausend sangen,

Als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel:

Sie litten mit dem edeln Freunde; grimmig

War ihre Brust und furchtbar ihr Gesang.

In unsrer Jugend sang’s die Amme mir

Und den Geschwistern vor, ich merkt es wohl:

Es fürchte die Götter

Das Menschengeschlecht!

Sie halten die Herrschaft

In ewigen Händen

Und können sie brauchen,

Wie’s ihnen gefällt.

 

Der fürchte sie doppelt,

Den je sie erheben!

Auf Klippen und Wolken

Sind Stühle bereitet

Um goldene Tische.

 

Erhebet ein Zwist sich:

So stürzen die Gäste

Geschmäht und geschändet

In nächtliche Tiefen

Und harren vergebens,

Im Finstern gebunden,

Gerechten Gerichtes.

 

Sie aber, sie bleiben

In ewigen Festen

An goldenen Tischen.

Sie schreiten vom Berge

Zu Bergen hinüber:

Aus Schlünden der Tiefe

Dampft ihnen der Atem

Erstickter Titanen,

Gleich Opfergerüchen,

Ein leichtes Gewölke.

 

Es wenden die Herrscher

Ihr segnendes Auge

Von ganzen Geschlechtern

Und meiden, im Enkel

Die ehmals geliebten,

Still redenden Züge

Des Ahnherrn zu sehn.

 

So sangen die Parzen;

Es horcht der Verbannte

In nächtlichen Höhlen,

Der Alte, die Lieder,

Denkt Kinder und Enkel

Und schüttelt das Haupt.

FÜNFTER AUFZUG

Erster Auftritt

Thoas. Arkas.

Arkas:

Verwirrt muß ich gestehn, daß ich nicht weiß,

Wohin ich meinen Argwohn richten soll.

Sind’s die Gefangnen, die auf ihre Flucht

Verstohlen sinnen? Ist’s die Priesterin,

Die ihnen hilft? Es mehrt sich das Gerücht:

Das Schiff, das diese beiden hergebracht,

Sei irgend noch in einer Bucht versteckt.

Und jenes Mannes Wahnsinn, diese Weihe,

Der heil’ge Vorwand dieser Zögrung, rufen

Den Argwohn lauter und die Vorsicht auf.

Thoas:

Es komme schnell die Priesterin herbei!

Dann geht, durchsucht das Ufer scharf und schnell

Vom Vorgebirge bis zum Hain der Göttin.

Verschonet seine heil’gen Tiefen, legt

Bedächt’gen Hinterhalt und greift sie an;

Wo ihr sie findet, faßt sie, wie ihr pflegt!

Zweiter Auftritt

Thoas allein:

Entsetzlich wechselt mir der Grimm im Busen:

Erst gegen sie, die ich so heilig hielt,

Dann gegen mich, der ich sie zum Verrat

Durch Nachsicht und durch Güte bildete.

Zur Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut

Und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn

Der Freiheit ganz beraubt. Ja, wäre sie

In meiner Ahnherrn rohe Hand gefallen

Und hätte sie der heil’ge Grimm verschont:

Sie wäre froh gewesen, sich allein

Zu retten, hätte dankbar ihr Geschick

Erkannt und fremdes Blut vor dem Altar

Vergossen, hätte Pflicht genannt,

Was Not war. Nun lockt meine Güte

In ihrer Brust verwegnen Wunsch herauf.

Vergebens hofft ich, sie mir zu verbinden;

Sie sinnt sich nun ein eigen Schicksal aus.

Durch Schmeichelei gewann sie mir das Herz:

Nun widersteh ich der, so sucht sie sich

Den Weg durch List und Trug, und meine Güte

Scheint ihr ein alt verjährtes Eigentum.

Dritter Auftritt

Iphigenie. Thoas.

Iphigenie:

Du forderst mich! Was bringt dich zu uns her?

Thoas:

Du schiebst das Opfer auf; sag an, warum?

Iphigenie:

Ich hab an Arkas alles klar erzählt.

Thoas:

Von dir möcht ich es weiter noch vernehmen.

Iphigenie:

Die Göttin gibt dir Frist zur Überlegung.

Thoas:

Sie scheint dir selbst gelegen, diese Frist.

Iphigenie:

Wenn dir das Herz zum grausamen Entschluß

Verhärtet ist, so solltest du nicht kommen!

Ein König, der Unmenschliches verlangt,

Findt Diener gnug, die gegen Gnad und Lohn

Den halben Fluch der Tat begierig fassen;

Doch seine Gegenwart bleibt unbefleckt.

Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke,

Und seine Boten bringen flammendes

Verderben auf des Armen Haupt hinab;

Er aber schwebt durch seine Höhen ruhig,

Ein unerreichter Gott, im Sturme fort.

Thoas:

Die heil’ge Lippe tönt ein wildes Lied.

Iphigenie:

Nicht Priesterin! nur Agamemnons Tochter.

Der Unbekannten Wort verehrtest du,

Der Fürstin willst du rasch gebieten? Nein!

Von Jugend auf hab ich gelernt gehorchen,

Erst meinen Eltern und dann einer Gottheit,

Und folgsam fühlt ich immer meine Seele

Am schönsten frei; allein dem harten

Seiten