Ungekürztes Werk "Iphigenie auf Tauris" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 23)

entgehn

Noch schwerem Übel, wenn es mir mißlingt;

Allein euch leg ich’s auf die Kniee! Wenn

Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet,

So zeigt’s durch euern Beistand und verherrlicht

Durch mich die Wahrheit! – Ja, vernimm, o König,

Es wird ein heimlicher Betrug geschmiedet:

Vergebens fragst du den Gefangnen nach;

Sie sind hinweg und suchen ihre Freunde,

Die mit dem Schiff am Ufer warten, auf.

Der ältste, den das Übel hier ergriffen

Und nun verlassen hat – es ist Orest,

Mein Bruder, und der andre sein Vertrauter,

Sein Jugendfreund, mit Namen Pylades.

Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer

Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild

Dianens wegzurauben und zu ihm

Die Schwester hinzubringen, und dafür

Verspricht er dem von Furien Verfolgten,

Des Mutterblutes Schuldigen, Befreiung.

Uns beide hab ich nun, die Überbliebnen

Von Tantals Haus, in deine Hand gelegt:

Verdirb uns – wenn du darfst.

Thoas: Du glaubst, es höre

Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme

Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,

Der Grieche, nicht vernahm?

Iphigenie: Es hört sie jeder,

Geboren unter jedem Himmel, dem

Des Lebens Quelle durch den Busen rein

Und ungehindert fließt. – Was sinnst du mir,

O König, schweigend in der tiefen Seele?

Ist es Verderben? so töte mich zuerst!

Denn nun empfind ich, da uns keine Rettung

Mehr übrigbleibt, die gräßliche Gefahr,

Worein ich die Geliebten übereilt

Vorsätzlich stürzte. Weh! Ich werde sie

Gebunden vor mir sehn! Mit welchen Blicken

Kann ich von meinem Bruder Abschied nehmen,

Den ich ermorde? Nimmer kann ich ihm

Mehr in die vielgeliebten Augen schaun!

Thoas:

So haben die Betrüger künstlich dichtend

Der lang Verschloßnen, ihre Wünsche leicht

Und willig Glaubenden ein solch Gespinst

Ums Haupt geworfen!

Iphigenie: Nein! o König, nein!

Ich könnte hintergangen werden; diese

Sind treu und wahr. Wirst du sie anders finden,

So laß sie fallen und verstoße mich,

Verbanne mich zur Strafe meiner Torheit

An einer Klippeninsel traurig Ufer.

Ist aber dieser Mann der lang erflehte

Geliebte Bruder, so entlaß uns, sei

Auch den Geschwistern wie der Schwester freundlich!

Mein Vater fiel durch seiner Frauen Schuld

Und sie durch ihren Sohn. Die letzte Hoffnung

Von Atreus’ Stamme ruht auf ihm allein.

Laß mich mit reinem Herzen, reiner Hand

Hinübergehn und unser Haus entsühnen.

Du hältst mir Wort! – Wenn zu den Meinen je

Mir Rückkehr zubereitet wäre, schwurst

Du, mich zu lassen; und sie ist es nun.

Ein König sagt nicht, wie gemeine Menschen,

Verlegen zu, daß er den Bittenden

Auf einen Augenblick entferne; noch

Verspricht er auf den Fall, den er nicht hofft:

Dann fühlt er erst die Höhe seiner Würde,

Wenn er den Harrenden beglücken kann.

Thoas:

Unwillig, wie sich Feuer gegen Wasser

Im Kampfe wehrt und gischend seinen Feind

Zu tilgen sucht, so wehret sich der Zorn

In meinem Busen gegen deine Worte.

Iphigenie:

O laß die Gnade wie das heil’ge Licht

Der stillen Opferflamme mir, umkränzt

Von Lobgesang und Dank und Freude, lodern.

Thoas:

Wie oft besänftigte mich diese Stimme!

Iphigenie:

O reiche mir die Hand zum Friedenszeichen!

Thoas:

Du forderst viel in einer kurzen Zeit.

Iphigenie:

Um Guts zu tun, braucht’s keiner Überlegung.

Thoas:

Sehr viel! denn auch dem Guten folgt das Übel.

Iphigenie:

Der Zweifel ist’s, der Gutes böse macht.

Bedenke nicht; gewähre, wie du’s fühlst.

Vierter Auftritt

Orest, gewaffnet.

Die Vorigen.

Orest nach der Szene gekehrt:

Verdoppelt eure Kräfte! Haltet sie

Zurück! Nur wenig Augenblicke! Weicht

Der Menge nicht und deckt den Weg zum Schiffe

Mir und der Schwester!

Zu Iphigenien, ohne den König zu sehen:

Komm, wir sind verraten.

Geringer Raum bleibt uns zur Flucht. Geschwind!

Er erblickt den König.

Thoas nach dem

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