Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 333)

der äußern Zustände fürchterlich und können sie nicht übertragen. Ich will niemanden überzeugen, so wie ich nach meiner Überzeugung handeln will. Ich denke kein Beispiel zu geben, wie ich doch nicht ohne Beispiel handle. Mich ängstigen nur die innern Mißverhältnisse, ein Gefäß, das sich zu dem, was es enthalten soll, nicht schickt; viel Prunk und wenig Genuß, Reichtum und Geiz, Adel und Roheit, Jugend und Pedanterei, Bedürfnis und Zeremonien, diese Verhältnisse wären’s, die mich vernichten könnten, die Welt mag sie stempeln und schätzen, wie sie will.”

“Wenn ich hoffe, daß wir zusammen passen werden, so gründe ich meinen Ausspruch vorzüglich darauf, daß er dir, liebe Natalie, die ich so unendlich schätze und verehre, daß er dir ähnlich ist. Ja, er hat von dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen. Wie oft habe ich dich nicht im stillen getadelt, daß du diesen oder jenen Menschen anders behandeltest, daß du in diesem oder jenem Fall dich anders betrugst, als ich würde getan haben, und doch zeigte der Ausgang meist, daß du recht hattest. ‚Wenn wir‘, sagtest du, ‚die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.‘ Ich kann weder so sehen noch handeln, das weiß ich recht gut. Einsicht, Ordnung, Zucht, Befehl, das ist meine Sache. Ich erinnere mich noch wohl, was Jarno sagte: ‚Therese dressiert ihre Zöglinge, Natalie bildet sie.‘ Ja, er ging so weit, daß er mir einst die drei schönen Eigenschaften: Glaube, Liebe und Hoffnung völlig absprach. ‚Statt des Glaubens‘, sagte er, ‚hat sie die Einsicht, statt der Liebe die Beharrlichkeit und statt der Hoffnung das Zutrauen.‘ Auch will ich dir gerne gestehen, eh ich dich kannte, kannte ich nichts Höheres in der Welt als Klarheit und Klugheit; nur deine Gegenwart hat mich überzeugt, belebt, überwunden, und deiner schönen, hohen Seele tret ich gerne den Rang ab. Auch meinen Freund verehre ich in ebendemselben Sinn; seine Lebensbeschreibung ist ein ewiges Suchen und Nichtfinden; aber nicht das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutmütige Suchen begabt ihn, er wähnt, man könne ihm das geben, was nur von ihm kommen kann. So, meine Liebe, schadet mir auch diesmal meine Klarheit nichts; ich kenne meinen Gatten besser, als er sich selbst kennt, und ich achte ihn nur um desto mehr. Ich sehe ihn, aber ich übersehe ihn nicht, und alle meine Einsicht reicht nicht hin zu ahnen, was er wirken kann. Wenn ich an ihn denke, vermischt sich sein Bild immer mit dem deinigen, und ich weiß nicht, wie ich es wert bin, zwei solchen Menschen anzugehören. Aber ich will es wert sein dadurch, daß ich meine Pflicht tue, dadurch, daß ich erfülle, was man von mir erwarten und hoffen kann.”

“Ob ich Lotharios gedenke? Lebhaft und täglich. Ihn kann ich in der Gesellschaft, die mich im Geiste umgibt, nicht einen Augenblick missen. O wie bedaure ich den

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