Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 334)

trefflichen Mann, der durch einen Jugendfehler mit mir verwandt ist, daß die Natur ihn dir so nahe gewollt hat. Wahrlich, ein Wesen wie du wäre seiner mehr wert als ich. Dir könnt ich, dir müßt ich ihn abtreten. Laß uns ihm sein, was nur möglich ist, bis er eine würdige Gattin findet, und auch dann laß uns zusammen sein und zusammen bleiben.”

“Was werden nun aber unsre Freunde sagen?” begann Natalie. “Ihr Bruder weiß nichts davon?” – “Nein! sowenig als die Ihrigen, die Sache ist diesmal nur unter uns Weibern verhandelt worden. Ich weiß nicht, was Lydie Theresen für Grillen in den Kopf gesetzt hat; sie scheint dem Abbé und Jarno zu mißtrauen. Lydie hat ihr gegen gewisse geheime Verbindungen und Plane, von denen ich wohl im allgemeinen weiß, in die ich aber niemals einzudringen gedachte, wenigstens einigen Argwohn eingeflößt, und bei diesem entscheidenden Schritt ihres Lebens wollte sie niemand als mir einigen Einfluß verstatten. Mit meinem Bruder war sie schon früher übereingekommen, daß sie sich wechselsweise ihre Heirat nur melden, sich darüber nicht zu Rate ziehen wollten.”

Natalie schrieb nun einen Brief an ihren Bruder, sie lud Wilhelmen ein, einige Worte dazuzusetzen, Therese hatte sie darum gebeten. Man wollte eben siegeln, als Jarno sich unvermutet anmelden ließ. Aufs freundlichste ward er empfangen, auch schien er sehr munter und scherzhaft und konnte endlich nicht unterlassen, zu sagen: “Eigentlich komme ich hieher, um Ihnen eine sehr wunderbare, doch angenehme Nachricht zu bringen; sie betrifft unsere Therese. Sie haben uns manchmal getadelt, schöne Natalie, daß wir uns um so vieles bekümmern; nun aber sehen Sie, wie gut es ist, überall seine Spione zu haben. Raten Sie, und lassen Sie uns einmal Ihre Sagazität sehen!”

Die Selbstgefälligkeit, womit er diese Worte aussprach, die schalkhafte Miene, womit er Wilhelmen und Natalien ansah, überzeugten beide, daß ihr Geheimnis entdeckt sei. Natalie antwortete lächelnd: “Wir sind viel künstlicher, als Sie denken, wir haben die Auflösung des Rätsels, noch ehe es uns aufgegeben wurde, schon zu Papiere gebracht.”

Sie überreichte ihm mit diesen Worten den Brief an Lothario und war zufrieden, der kleinen Überraschung und Beschämung, die man ihnen zugedacht hatte, auf diese Weise zu begegnen. Jarno nahm das Blatt mit einiger Verwunderung, überlief es nur, staunte, ließ es aus der Hand sinken und sah sie beide mit großen Augen, mit einem Ausdruck der Überraschung, ja des Entsetzens an, den man auf seinem Gesichte nicht gewohnt war. Er sagte kein Wort.

Wilhelm und Natalie waren nicht wenig betroffen, Jarno ging in der Stube auf und ab. “Was soll ich sagen?” rief er aus, “oder soll ich’s sagen? Es kann kein Geheimnis bleiben, die Verwirrung ist nicht zu vermeiden. Also denn Geheimnis gegen Geheimnis! Überraschung gegen Überraschung! Therese ist nicht die Tochter ihrer Mutter! Das Hindernis ist gehoben: ich komme hierher, Sie zu bitten, das edle Mädchen zu einer Verbindung mit Lothario vorzubereiten.”

Jarno sah die Bestürzung der beiden Freunde, welche die Augen zur Erde niederschlugen. “Dieser Fall ist einer von denen”, sagte er, “die sich in Gesellschaft am schlechtesten ertragen lassen. Was jedes

Seiten