Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 341)
Dasein auf den einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu konzentrieren.”
Sie wollten eben den Saal verlassen, als sie die Kinder in dem Gange heftig laufen und den Felix rufen hörten: “Nein ich! nein ich!”
Mignon warf sich zuerst zur geöffneten Türe herein; sie war außer Atem und konnte kein Wort sagen; Felix, noch in einiger Entfernung, rief: “Mutter Therese ist da!” Die Kinder hatten, so schien es, die Nachricht zu überbringen, einen Wettlauf angestellt. Mignon lag in Nataliens Armen, ihr Herz pochte gewaltsam.
“Böses Kind”, sagte Natalie, “ist dir nicht alle heftige Bewegung untersagt? Sieh, wie dein Herz schlägt!”
“Laß es brechen!” sagte Mignon mit einem tiefen Seufzer, “es schlägt schon zu lange.”
Man hatte sich von dieser Verwirrung, von dieser Art von Bestürzung kaum erholt, als Therese hereintrat. Sie flog auf Natalien zu, umarmte sie und das gute Kind. Dann wendete sie sich zu Wilhelmen, sah ihn mit ihren klaren Augen an und sagte: “Nun, mein Freund, wie steht es, Sie haben sich doch nicht irremachen lassen?” Er tat einen Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn zu und hing an seinem Halse. “O meine Therese!” rief er aus.
“Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja, auf ewig die Deine!” rief sie unter den lebhaftesten Küssen.
Felix zog sie am Rocke und rief: “Mutter Therese, ich bin auch da!” Natalie stand und sah vor sich hin; Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot nieder.
Der Schrecken war groß: keine Bewegung des Herzens noch des Pulses war zu spüren. Wilhelm nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilig hinauf, der schlotternde Körper hing über seine Schultern. Die Gegenwart des Arztes gab wenig Trost; er und der junge Wundarzt, den wir schon kennen, bemühten sich vergebens. Das liebe Geschöpf war nicht ins Leben zurückzurufen.
Natalie winkte Theresen. Diese nahm ihren Freund bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Er war stumm und ohne Sprache und hatte den Mut nicht, ihren Augen zu begegnen. So saß er neben ihr auf dem Kanapee, auf dem er Natalien zuerst angetroffen hatte. Er dachte mit großer Schnelle eine Reihe von Schicksalen durch, oder vielmehr er dachte nicht, er ließ das auf seine Seele wirken, was er nicht entfernen konnte. Es gibt Augenblicke des Lebens, in welchen die Begebenheiten gleich geflügelten Weberschiffchen vor uns sich hin und wider bewegen und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder weniger selbst gesponnen und angelegt haben. “Mein Freund!” sagte Therese; “mein Geliebter!” indem sie das Stillschweigen unterbrach und ihn bei der Hand nahm, “laß uns diesen Augenblick fest zusammenhalten, wie wir noch öfters, vielleicht in ähnlichen Fällen, werden zu tun haben. Dies sind die Ereignisse, welche zu ertragen man zu zweien in der Welt sein muß. Bedenke, mein Freund, fühle, daß du nicht allein bist, zeige, daß du deine Therese liebst, zuerst dadurch, daß du deine Schmerzen ihr mitteilst!” Sie umarmte ihn und schloß ihn sanft an ihren Busen; er faßte sie