Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 342)
in seine Arme und drückte sie mit Heftigkeit an sich. “Das arme Kind”, rief er aus, “suchte in traurigen Augenblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen; laß die Sicherheit des deinigen mir in dieser schrecklichen Stunde zugute kommen.” Sie hielten sich fest umschlossen, er fühlte ihr Herz an seinem Busen schlagen, aber in seinem Geiste war es öde und leer; nur die Bilder Mignons und Nataliens schwebten wie Schatten vor seiner Einbildungskraft.
Natalie trat herein. “Gib uns deinen Segen!” rief Therese, “laß uns in diesem traurigen Augenblicke von dir verbunden sein.” Wilhelm hatte sein Gesicht an Theresens Halse verborgen; er war glücklich genug, weinen zu können. Er hörte Natalien nicht kommen, er sah sie nicht, nur bei dem Klang ihrer Stimme verdoppelten sich seine Tränen. “Was Gott zusammenfügt, will ich nicht scheiden”, sagte Natalie lächelnd, “aber verbinden kann ich euch nicht und kann nicht loben, daß Schmerz und Neigung die Erinnerung an meinen Bruder völlig aus euren Herzen zu verbannen scheint.” Wilhelm riß sich bei diesen Worten aus den Armen Theresens. “Wo wollen Sie hin?” riefen beide Frauen. “Lassen Sie mich das Kind sehen”, rief er aus, “das ich getötet habe! Das Unglück, das wir mit Augen sehen, ist geringer, als wenn unsere Einbildungskraft das Übel gewaltsam in unser Gemüt einsenkt; lassen Sie uns den abgeschiedenen Engel sehen! Seine heitere Miene wird uns sagen, daß ihm wohl ist!” Da die Freundinnen den bewegten Jüngling nicht abhalten konnten, folgten sie ihm; aber der gute Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entgegenkam, hielt sie ab, sich der Verblichenen zu nähern, und sagte: “Halten Sie sich von diesem traurigen Gegenstande entfernt, und erlauben Sie mir, daß ich den Resten dieses sonderbaren Wesens, soviel meine Kunst vermag, einige Dauer gebe. Ich will die schöne Kunst, einen Körper nicht allein zu balsamieren, sondern ihm auch ein lebendiges Ansehn zu erhalten, bei diesem geliebten Geschöpfe sogleich anwenden. Da ich ihren Tod voraussah, habe ich alle Anstalten gemacht, und mit diesem Gehülfen hier soll mir’s gelingen. Erlauben Sie mir nur noch einige Tage Zeit, und verlangen Sie das liebe Kind nicht wieder zu sehen, bis wir es in den Saal der Vergangenheit gebracht haben.”
Der junge Chirurgus hatte jene merkwürdige Instrumententasche wieder in Händen. “Von wem kann er sie wohl haben?” fragte Wilhelm den Arzt. “Ich kenne sie sehr gut”, versetzte Natalie, “er hat sie von seinem Vater, der Sie damals im Walde verband.”
“Oh, so habe ich mich nicht geirrt”, rief Wilhelm, “ich erkannte das Band sogleich! Treten Sie mir es ab! Es brachte mich zuerst wieder auf die Spur von meiner Wohltäterin. Wieviel Wohl und Wehe überdauert nicht ein solches lebloses Wesen! Bei wieviel Schmerzen war dies Band nicht schon gegenwärtig, und seine Fäden halten noch immer! Wie vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine Farben sind noch nicht verblichen! Es war gegenwärtig in einem der schönsten Augenblicke meines Lebens, da ich verwundet auf der Erde lag und Ihre hülfreiche Gestalt vor mir erschien, als das Kind mit blutigen Haaren, mit der zärtlichsten Sorgfalt