Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 346)
abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ich mich doch unmöglich bei mir selbst dazu für ganz unfähig erklären.” – “Und bei mir”, sagte Jarno, “ist es doch so rein entschieden, daß, wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist. Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Namen. So haben Sie zum Beispiel den Hamlet und einige andere Rollen recht gut gespielt, bei denen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmung des Augenblicks Ihnen zugute kamen. Das wäre nun für ein Liebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen andern Weg vor sich sähe. ‚Man soll sich‘”, fuhr Jarno fort, indem er auf die Rolle sah, “‚vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat. Man mag es darin so weit bringen, als man will, so wird man doch immer zuletzt, wenn uns einmal das Verdienst des Meisters klar wird, den Verlust von Zeit und Kräften, die man auf eine solche Pfuscherei gewendet hat, schmerzlich bedauern.‘”
“Lesen Sie nichts!” sagte Wilhelm, “ich bitte Sie inständig, sprechen Sie fort, erzählen Sie mir, klären Sie mich auf! Und so hat also der Abbé mir zum Hamlet geholfen, indem er einen Geist herbeischaffte?” – “Ja, denn er versicherte, daß es der einzige Weg sei, Sie zu heilen, wenn Sie heilbar wären.” – “Und darum ließ er mir den Schleier zurück und hieß mich fliehen?” – “Ja, er hoffte sogar, mit der Vorstellung des Hamlets sollte Ihre ganze Lust gebüßt sein. Sie würden nachher das Theater nicht wieder betreten, behauptete er; ich glaubte das Gegenteil und behielt recht. Wir stritten noch selbigen Abend nach der Vorstellung darüber.” – “Und Sie haben mich also spielen sehen?” – “O gewiß!” – “Und wer stellte denn den Geist vor?” – “Das kann ich selbst nicht sagen; entweder der Abbé oder sein Zwillingsbruder, doch glaub ich, dieser, denn er ist um ein weniges größer.” – “Sie haben also auch Geheimnisse untereinander?” – “Freunde können und müssen Geheimnisse voreinander haben; sie sind einander doch kein Geheimnis.”
“Es verwirrt mich schon das Andenken dieser Verworrenheit. Klären Sie mich über den Mann auf, dem ich so viel schuldig bin und dem ich so viel Vorwürfe zu machen habe.”
“Was ihn uns so schätzbar macht”, versetzte Jarno, “was ihm gewissermaßen die Herrschaft über uns alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Natur über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt; jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und andern; nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen. Ganz entgegengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennen und zu befördern. Da muß ich doch wieder in die Rolle sehen!” fuhr Jarno fort. “‚Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im