Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 348)

still, indem er einen jeden in seinem Kreis befördert; sein Wissen ist ein beständiges Sammeln und Ausspenden, ein Nehmen und Mitteilen im kleinen. Vielleicht könnte Lothario in einem Tage zerstören, woran dieser jahrelang gebaut hat; aber vielleicht teilt auch Lothario in einem Augenblick andern die Kraft mit, das Zerstörte hundertfältig wiederherzustellen.” – “Es ist ein trauriges Geschäft”, sagte Wilhelm, “wenn man über die reinen Vorzüge der andern in einem Augenblicke denken soll, da man mit sich selbst uneins ist; solche Betrachtungen stehen dem ruhigen Manne wohl an, nicht dem, der von Leidenschaft und Ungewißheit bewegt ist.” – “Ruhig und vernünftig zu betrachten ist zu keiner Zeit schädlich, und indem wir uns gewöhnen, über die Vorzüge anderer zu denken, stellen sich die unsern unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede falsche Tätigkeit, wozu uns die Phantasie lockt, wird alsdann gern von uns aufgegeben. Befreien Sie wo möglich Ihren Geist von allem Argwohn und aller Ängstlichkeit! Dort kommt der Abbé, sein Sie ja freundlich gegen ihn, bis Sie noch mehr erfahren, wieviel Dank Sie ihm schuldig sind. Der Schalk! da geht er zwischen Natalien und Theresen; ich wollte wetten, er denkt sich was aus. So wie er überhaupt gern ein wenig das Schicksal spielt, so läßt er auch nicht von der Liebhaberei, manchmal eine Heirat zu stiften.”

Wilhelm, dessen leidenschaftliche und verdrießliche Stimmung durch alle die klugen und guten Worte Jarnos nicht verbessert worden war, fand höchst undelikat, daß sein Freund gerade in diesem Augenblick eines solchen Verhältnisses erwähnte, und sagte, zwar lächelnd, doch nicht ohne Bitterkeit: “Ich dächte, man überließe die Liebhaberei, Heiraten zu stiften, Personen, die sich liebhaben.”

SECHSTES KAPITEL

Die Gesellschaft hatte sich eben wieder begegnet, und unsere Freunde sahen sich genötigt, das Gespräch abzubrechen. Nicht lange, so ward ein Kurier gemeldet, der einen Brief in Lotharios eigene Hände übergeben wollte; der Mann ward vorgeführt, er sah rüstig und tüchtig aus, seine Livree war sehr reich und geschmackvoll. Wilhelm glaubte ihn zu kennen, und er irrte sich nicht, es war derselbe Mann, den er damals Philinen und der vermeinten Mariane nachgeschickt hatte und der nicht wieder zurückgekommen war. Eben wollte er ihn anreden, als Lothario, der den Brief gelesen hatte, ernsthaft und fast verdrießlich fragte: “Wie heißt Sein Herr?”

“Das ist unter allen Fragen”, versetzte der Kurier mit Bescheidenheit, “auf die ich am wenigsten zu antworten weiß; ich hoffe, der Brief wird das Nötige vermelden; mündlich ist mir nichts aufgetragen.”

“Es sei, wie ihm sei”, versetzte Lothario mit Lächeln, “da Sein Herr das Zutrauen zu mir hat, mir so hasenfüßig zu schreiben, so soll er uns willkommen sein.” – “Er wird nicht lange auf sich warten lassen”, versetzte der Kurier mit einer Verbeugung und entfernte sich.

“Vernehmet nur”, sagte Lothario, “die tolle, abgeschmackte Botschaft. ‚Da unter allen Gästen‘, so schreibt der Unbekannte, ‚ein guter Humor der angenehmste Gast sein soll, wenn er sich einstellt, und ich denselben als Reisegefährten beständig mit mir herumführe, so bin ich überzeugt, der Besuch, den ich Euer Gnaden und Liebden zugedacht habe, wird nicht übel vermerkt werden, vielmehr hoffe

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