Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 349)
ich mit der sämtlichen hohen Familie vollkommener Zufriedenheit anzulangen und gelegentlich mich wieder zu entfernen, der ich mich, und so weiter, Graf von Schneckenfuß‘”
“Das ist eine neue Familie”, sagte der Abbé.
“Es mag ein Vikariatsgraf sein”, versetzte Jarno.
“Das Geheimnis ist leicht zu erraten”, sagte Natalie; “ich wette, es ist Bruder Friedrich, der uns schon seit dem Tode des Oheims mit einem Besuche droht.”
“Getroffen, schöne und weise Schwester!” rief jemand aus einem nahen Busche, und zugleich trat ein angenehmer, heiterer junger Mann hervor; Wilhelm konnte sich kaum eines Schreies enthalten. “Wie?” rief er, “unser blonder Schelm, der soll mir auch hier noch erscheinen?” Friedrich ward aufmerksam, sah Wilhelmen an und rief: “Wahrlich, weniger erstaunt wär ich gewesen, die berühmten Pyramiden, die doch in Ägypten so fest stehen, oder das Grab des Königs Mausolus, das, wie man mir versichert hat, gar nicht mehr existiert, hier in dem Garten meines Oheims zu finden als Euch, meinen alten Freund und vielfachen Wohltäter. Seid mir besonders und schönstens gegrüßt!”
Nachdem er ringsherum alles bewillkommt und geküßt hatte, sprang er wieder auf Wilhelmen los und rief: “Haltet mir ihn ja warm, diesen Helden, Heerführer und dramatischen Philosophen! Ich habe ihn bei unserer ersten Bekanntschaft schlecht, ja ich darf wohl sagen, mit der Hechel frisiert, und er hat mir doch nachher eine tüchtige Tracht Schläge erspart. Er ist großmütig wie Scipio, freigebig wie Alexander, gelegentlich auch verliebt, doch ohne seine Nebenbuhler zu hassen. Nicht etwa, daß er seinen Feinden Kohlen aufs Haupt sammelte, welches, wie man sagt, ein schlechter Dienst sein soll, den man jemanden erzeigen kann, nein, er schickt vielmehr den Freunden, die ihm sein Mädchen entführen, gute und treue Diener nach, damit ihr Fuß an keinen Stein stoße.”
In diesem Geschmack fuhr er unaufhaltsam fort, ohne daß jemand ihm Einhalt zu tun imstande gewesen wäre, und da niemand in dieser Art ihm erwidern konnte, so behielt er das Wort ziemlich allein. “Verwundert euch nicht”, rief er aus, “über meine große Belesenheit in heiligen und Profan-Skribenten; ihr sollt erfahren, wie ich zu diesen Kenntnissen gelangt bin.” Man wollte von ihm wissen, wie es ihm gehe, wo er herkomme; allein er konnte vor lauter Sittensprüchen und alten Geschichten nicht zur deutlichen Erklärung gelangen.
Natalie sagte leise zu Theresen: “Seine Art von Lustigkeit tut mir wehe; ich wollte wetten, daß ihm dabei nicht wohl ist.”
Da Friedrich außer einigen Späßen, die ihm Jarno erwiderte, keinen Anklang für seine Possen in der Gesellschaft fand, sagte er: “Es bleibt mir nichts übrig, als mit der ernsthaften Familie auch ernsthaft zu werden, und weil mir unter solchen bedenklichen Umständen sogleich meine sämtliche Sündenlast schwer auf die Seele fällt, so will ich mich kurz und gut zu einer Generalbeichte entschließen, wovon ihr aber, meine werten Herrn und Damen, nichts vernehmen sollt. Dieser edle Freund hier, dem schon einiges von meinem Leben und Tun bekannt ist, soll es allein erfahren, um so mehr, als er allein darnach zu fragen einige Ursache hat. Wäret Ihr nicht neugierig zu wissen”, fuhr er gegen Wilhelmen fort, “wie und wo? wer? wann