Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 350)

und warum? wie sieht’s mit der Konjugation des griechischen Verbi Philéo, Philoh und mit den Derivativis dieses allerliebsten Zeitwortes aus?”

Somit nahm er Wilhelmen beim Arme, führte ihn fort, indem er ihn auf alle Weise drückte und küßte.

Kaum war Friedrich auf Wilhelms Zimmer gekommen, als er im Fenster ein Pudermesser liegen fand mit der Inschrift: “Gedenke mein”. “Ihr hebt Eure werten Sachen gut auf!” sagte er, “wahrlich, das ist Philinens Pudermesser, das sie Euch jenen Tag schenkte, als ich Euch so gerauft hatte. Ich hoffe, Ihr habt des schönen Mädchens fleißig dabei gedacht, und versichere Euch, sie hat Euch auch nicht vergessen, und wenn ich nicht jede Spur von Eifersucht schon lange aus meinem Herzen verbannt hätte, so würde ich Euch nicht ohne Neid ansehen.”

“Reden Sie nichts mehr von diesem Geschöpfe”, versetzte Wilhelm. “Ich leugne nicht, daß ich den Eindruck ihrer angenehmen Gegenwart lange nicht loswerden konnte, aber das war auch alles.”

“Pfui! schämt Euch”, rief Friedrich, “wer wird eine Geliebte verleugnen? Und Ihr habt sie so komplett geliebt, als man es nur wünschen konnte. Es verging kein Tag, daß Ihr dem Mädchen nicht etwas schenktet, und wenn der Deutsche schenkt, liebt er gewiß. Es blieb mir nichts übrig, als sie Euch zuletzt wegzuputzen, und dem roten Offizierchen ist es denn auch endlich geglückt.”

“Wie? Sie waren der Offizier, den wir bei Philinen antrafen und mit dem sie wegreiste?”

“Ja”, versetzte Friedrich, “den Sie für Marianen hielten. Wir haben genug über den Irrtum gelacht.”

“Welche Grausamkeit!” rief Wilhelm, “mich in einer solchen Ungewißheit zu lassen.”

“Und noch dazu den Kurier, den Sie uns nachschickten, gleich in Dienste zu nehmen!” versetzte Friedrich. “Es ist ein tüchtiger Kerl und ist diese Zeit nicht von unserer Seite gekommen. Und das Mädchen lieb ich noch immer so rasend wie jemals. Mir hat sie’s ganz eigens angetan, daß ich mich ganz nahezu in einem mythologischen Falle befinde und alle Tage befürchte, verwandelt zu werden.”

“Sagen Sie mir nur”, fragte Wilhelm, “wo haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehrsamkeit her? Ich höre mit Verwunderung der seltsamen Manier zu, die Sie angenommen haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und Fabeln zu sprechen.”

“Auf die lustigste Weise”, sagte Friedrich, “bin ich gelehrt, und zwar sehr gelehrt worden. Philine ist nun bei mir, wir haben einem Pachter das alte Schloß eines Rittergutes abgemietet, worin wir wie die Kobolde aufs lustigste leben. Dort haben wir eine zwar kompendiöse, aber doch ausgesuchte Bibliothek gefunden, enthaltend eine Bibel in Folio, Gottfrieds ‚Chronik‘, zwei Bände ‚Theatrum Europaeum‘, die ‚Acerra Philologica‘, Gryphii Schriften und noch einige minder wichtige Bücher. Nun hatten wir denn doch, wenn wir ausgetobt hatten, manchmal Langeweile, wir wollten lesen, und ehe wir’s uns versahen, ward unsere Weile noch länger. Endlich hatte Philine den herrlichen Einfall, die sämtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschlagen, wir setzten uns gegeneinander und lasen gegeneinander, und immer nur stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern. Das war nun eine rechte Lust! Wir glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu sein, wo man für unschicklich hält, irgendeine Materie zu lange fortsetzen oder wohl gar gründlich

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