Interpretation "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 2)

Auf anderer Ebene wiederholt sich dann diese Konstellation. Auf dem Schloß des Grafen ist es die Theatertruppe selbst, welche die problematische Rolle des von der Adelsgesellschaft ausgehaltenen und damit ihren Launen ausgesetzten Künstlertums spielt. Andererseits verfallen die Schauspieler alsbald in unverschämte Unzufriedenheit: "Unsere Truppe [...] fing nun an, je besser es ihr ging, desto größere Anforderungen zu machen. In kurzer Zeit war ihnen Essen, Trinken, Aufwartung, Wohnung zu gering, und sie lagen ihrem Beschützer, dem Baron, an, daß er für sie besser sorgen [...] solle."

So ist die Verwunderung Jarnos über Wilhelm ganz begreiflich: "Noch habe ich nicht gefragt, wie Sie in diese Gesellschaft gekommen sind, für die sie weder geboren noch erzogen sein können. Soviel hoffe ich und sehe ich, daß Sie sich heraussehnen." Verfrüht ist aber seine Mahnung: "Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben überzugehen." Denn Wilhelms Tätigkeit besteht vorerst in der Beschäftigung mit Shakespeare; er denkt noch nicht daran, dem Theater zu entsagen, sondern sucht ein höheres künstlerisches und geistiges Niveau zu verwirklichen. Andererseits bringt ihn gerade Shakespeare dazu – und dies deckt sich ironischerweise mit der Absicht Jarnos – "in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun, mich in die Flut der Schicksale [...] mischen" zu wollen, allerdings nicht um der Wirklichkeit selbst willen, sondern um daraus Kunst, Theaterkunst zu machen, "aus dem Meere der wahren Natur wenige Becher zu schöpfen und sie von der Schaubühne dem lechzenden Publikum des Vaterlandes auszuspenden."

Wilhelm gelingt zwar vorübergehend die Verwirklichung seiner Kunstideale auf der Bühne – die Hamlet-Inszenierung ist Höhe- und Wendepunkt zugleich. Denn der Idealzustand ist nicht lange durchzuhalten: "In kurzer Zeit war das ganze Verhältnis, das wirklich eine Zeitlang beinahe idealisch gehalten hatte, so gemein, als man es nur irgend bei einem herumreisenden Theater finden mag. Und leider in dem Augenblicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anstrengung sich mit allen Erfordernissen des Metiers bekannt gemacht und seine Person sowohl als seine Geschäftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, schien es ihm endlich in trüben Stunden, daß dieses Handwerk weniger als irgendein andres den nötigen Aufwand von Zeit und Kräften verdiene. Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering."

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