Interpretation "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

So sind es drei Gesellschaften – die Theatergesellschaft, die Adelsgesellschaft, die Turmgesellschaft –, die Wilhelm durchlaufen muss, um zur menschlichen Gesellschaft reif zu werden, um seinen Lehrbrief als 'Geselle' zu erhalten.

Übrigens ist die ebenso mysteriöse wie vernunftgeleitete Turmgesellschaft (ein Reflex der im 18. Jahrhundert überaus beliebten und einflußreichen Geheimbünde) als Gegenmodell zur Theatergesellschaft nicht der Weisheit letzter Schluss, was u. a. dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie schließlich zu einer Art Versicherungsgesellschaft gegen Revolutionen degeneriert: "aus unserm guten alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns untereinander unserer Existenz, auf einen einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe."

Erst Wilhelms Bekenntnis zur Verantwortung als Vater von Felix macht ihn zu einem Glied der menschlichen Gesellschaft. Die Bindung von Eltern zu Kindern ist aber zugleich deren ursprünglichste und natürlichste Form: "Heil dir, junger Mann! deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur hat dich losgesprochen."

Bei diesem Prozess der 'Sozialisation' bleiben romantische Randfiguren wie Mignon und der Harfner auf der Strecke. Nicht umsonst ist Mignon die Frucht eines Inzests, eines der gesellschaftlich tabuisiertesten Vehältnisse; nicht umsonst verkörpert der Harfner in seiner autistischen Ich-Versunkenheit die 'Asozialität' der romantischen Philosophie und Kunst. Dabei darf der Harfner geradezu als Karikatur der die Romantik bestimmenden Ich-Philosophie Fichtes gelten, die das Ich absolut setzt und alle Erscheinungen nur als Projektionen des Subjekts auffasst: "Seit vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den mindesten Anteil genommen, [...]. Bloß in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles leeres Ich, das ihm als ein unendlicher Abgrund erschien. [...] Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir, rief er aus, als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde. [...] Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Tränen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe; denn sie allein locken mir den Wunsch ab, daß die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein möchten."

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