Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 16)

Augen noch einmal nach dem südlichen Horizonte; er suchte diejenige Stelle am Himmel, welche über seiner Stadt, ja über seinem Hause liegen mochte, und fand sie freilich nicht. Desto deutlicher hingegen sah er nun, als er sich in den Wagen zurücklehnend die Augen schloß, die mütterliche Wohnstube mit allen ihren Gegenständen, er sah seine Mutter einsam umhergehen, ihr Abendbrot bereitend, dann aber kummervoll am Tische vor dem Ungenossenen dasitzen. Er sah sie darauf einen Band eines großen Andachtswerkes, fast ihre ganze Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hineinblicken, ohne zu lesen; endlich ergriff sie die stille Lampe und ging langsam nach dem Alkoven, hinter dessen schneeweißen Vorhängen Heinrichs Wiege gestanden hatte. Hier mußte er den Mantel ein wenig vor sein Gesicht drücken, es war ihm, als ob er schon Jahre lang und tausend Stunden weit in der Ferne gelebt hätte, und es befiel ihn eine plötzliche Angst, daß er die Stube nie mehr betreten dürfe.

Er konnte sich nicht enthalten, jene Familien bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und eine hübsche runde Zahl Geschwister nebst übriger Verwandtschaft in sich vereinigen, wo, wenn je eines aus ihrem Schoße scheidet, ein anderes dafür zurückkehrt und über jedes außerordentliche Ereignis ein behaglicher Familienrat abgehalten wird, und selbst bei einem Todesfalle verteilt sich der Schmerz in kleinere Lasten auf die zahlreichen Häupter, so daß oft wenige Wochen hinreichen, denselben in ein fast angenehm-wehmütiges Erinnern zu verwandeln. Wie verschieden dagegen war seine eigne Lage! Das ganze Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden die auseinander gerissen, so kannte jede die Einsamkeit der anderen und der Trennungsschmerz wurde so verdoppelt.

»Haben wohl«, dachte er, »jene Propheten nicht unrecht, welche die jetzige Bedeutung der Familie vernichten wollen? Wie kühl, wie ruhig könnten nun meine Mutter und ich sein, wenn das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn nach jeder Trennung man sich gesichert in den Schoß der Gesamtheit zurückflüchten könnte, wohl wissend, daß der andere Teil auch darin seine Wurzeln hat, welche nie durchschnitten werden können, und wenn endlich demzufolge die verwandtschaftlichen Leiden beseitigt würden!«

Im Mittelalter wurde der Tod als ein menschliches Skelett abgebildet und es hat sich daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt; sogar leblose Gegenstände, wie Meerschiffe, wurden skelettisiert und mußten auf dem Meere als Totenschiff spuken. Denkt man sich solcherweise das fliegende Gerippe einer Krähe, so war es der Schatten derselben, welchem der Gedanke glich, der soeben über Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne schien reichlich durch das dürre Gitter der Knöchlein und Gebeine.

»Nein«, rief ihm sein innerstes Gefühl zu, »der Zustand, den sich diese Menschen wünschen, gleicht zu sehr der stabilen gedankenlosen Seligkeit, welche das höchste Ziel der meisten Christen ist. Man muß wohl unterscheiden zwischen Leiden und Leiden; das eine ist zu dulden, ja zu ehren, während das andere unzulässig ist!«

»Der beste Maßstab«, dachte er weiter, »ist vielleicht der ästhetische. Alle Leiden lassen sich in schöne und unschöne einteilen, in sittliche und unsittliche, unsittlich für die, welche sie ansehen und in ihrer Nähe dulden. Eine Waise, die auf einem Grabhügel in Tränen zerfließt, ist schön und

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