Ungekürztes Werk "Der grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 532)

ihn groß an, erwies ihm aber Ehre, und es hieß schon überall, er habe ein großes Glück in der Fremde gemacht. Dann begab er sich aufs Land, um seine Vettern und Basen zu sehen, die zerstreut waren. Alle hatten die Stuben voll Kinder, die einen waren wohlhabend, die anderen schienen bedrängt und klagten sehr; doch alle waren gleichmäßig beschäftigt und belastet mit ihren Zuständen und schienen sich selbst nicht viel um einander zu kümmern. Die Frauen waren schon verblüht, rasch und gesalzen in ihrem Tun und Sprechen und die Männer abwechselnd gleichmütig und einsilbig oder jähzornig. Sie schienen Heinrich zu beneiden, daß er nun alles noch vor sich habe, was sie schon durchgelebt zum Teil, und das einzige, worin sie ein herzliches Einverständnis mit ihm fanden, war die Klage um die Verstorbenen.

Heinrich trieb sich eine Zeitlang bei ihnen umher und gab sich meistens mit ihren Kindern ab, da ihm dieses unschuldige Zerstreuung war, welche auf Augenblicke wenigstens seinen harten Zustand in ein linderes Weh verwandelte.

Eines Abends streifte er in der Gegend umher und kam an den breiten Fluß. Ein großer siebzigjähriger Mann, den er noch nie gesehen, in einfacher, aber sauberer Kleidung, beschäftigte sich am Ufer mit Fischerzeug und sang ein sonderbares Lied dazu vom Recht und vom Glück, von dem man nicht wußte, wie es in die Gegend gekommen. Er sang mit frischer Stimme, indem er seine glänzenden Netze zusammenraffte:

Recht im Glücke! goldnes Los,

Land und Leute machst du groß!

Glück im Rechte! fröhlich Blut,

Wer dich hat, der treibt es gut!

Recht im Unglück, herrlich Schaun,

Wie das Meer im Wettergraun!

Göttlich grollts am Klippenrand,

Perlen wirft es auf den Sand!

Einen Seemann grau von Jahren

Sah ich auf den Wassern fahren,

War wie ein Medusenschild

Der versteinten Unruh Bild.

Und er sang: Viel tausendmal

Schoß ich in das Wellental,

Fuhr ich auf zur Wogenhöh,

Ruht ich auf der stillen See!

Und die Woge war mein Knecht,

Denn mein Kleinod war das Recht.

Gestern noch mit ihm ich schlief,

Ach! nun liegts da unten tief!

In der dunklen Tiefe fern

Schimmert ein gefallner Stern,

Und schon dünkt michs tausend Jahr,

Daß das Recht einst meines war.

Wenn die See nun wieder tobt,

Niemand mehr den Meister lobt.

Hab ich Glück, verdien ichs nicht,

Glück wie Unglück mich zerbricht.

Heinrich stand vor ihm still und hörte zu. Der Alte sah ihn aufmerksam an und grüßte ihn. »Ihr scheint«, sagte er, »ein Lee zu sein, den Augen und der Nase nach zu urteilen?« »Ja«, sagte Heinrich. »So so«, erwiderte der Mann, »so seid Ihr vielleicht des Baumeisters Sohn aus der Stadt, der sich vor Jahren viel hier aufhielt? Habt Euch lange nicht sehen lassen!« »Ich habe aber Euch doch nie gesehen mit Wissen!« versetzte Heinrich, und der Mann sagte: »So geht es wohl! Ich meinerseits habe schon viel gesehen und sehe alles. Habe auch Eure Mutter recht wohl gekannt; was macht sie, ist sie gesund und munter?« »Nein, sie ist tot!« antwortete Heinrich. »So so!« der Alte, »tot! ja, die Zeit vergeht! Es ist mir, als sei es heute, und sind es doch gerade funfzig Jahr her, daß ich an dieser Stelle hier als ein zwanzigjähriger Bursche die Leute über das Wasser führte. Es kam eine Kutsche voll Stadtleute von Eurem Dorfe hergefahren, die lustig und guter Dinge waren und über den Fluß setzen wollten. Eure Mutter war als ein dreijähriges Kind dabei, und ich hob es aus der Kutsche und setzte es zu den blühenden und fröhlichen Eltern ins Schiff. – Das Kind hatte ein närrisches rosenrotes Kleidchen an und lächelte so holdselig und gut, daß ich so dachte: Dies ist einmal ein sauberes und freundliches Kind, das wird es gewiß immer gut haben. In dem schwankenden Schiff fing es aber an zu weinen, die hübsche junge Mutter schloß es in die Arme und beruhigte es, indes die anderen hellauf ein Lied sangen im Überfahren und sich mit Wasser bespritzten. Dann sah ich sie wieder, als sie etwa sechzehn Jahr alt und ein sittsames liebliches Mädchendings war. Es fuhr wieder ein ganzer Haufen jungen Volkes hierüber, so daß ich wohl dreimal fahren mußte, und auf der Wiese drüben pflanzten sie sich auf und musizierten und tanzten. Eure Mutter beschied sich aber in ihrer Fröhlichkeit und tanzte nicht so viel, und als ein paar Gelbschnäbel ihr zu eifrig den Hof machten, floh sie in das angebundene Schifflein und fing fleißig an zu stricken. Alles das ist lange her!«

Der Himmel jener Jahre schien dem zuhörenden Heinrich vorüberzuziehen in der blauen wolkenreinen Höhe. Er vermochte aber den lachenden Himmel und das grüne Land nicht länger zu ertragen und wollte zur Stadt zurück, wo er sich in dem Sterbegemach der Mutter verbarg. Die Liebe und Sehnsucht zu Dortchen wachte aufs neue mit verdoppelter Macht auf, seine Augen drangen den Sonnenstrahlen nach, welche über die Dächer in die dunkle Wohnung streiften, und seine Blicke glaubten auf dem goldenen Wege, der zu einem schmalen Stückchen blauer Luft führte, die Geliebte und das verlorene Glück finden zu müssen.

Er schrieb alles an den Grafen; aber ehe eine Antwort da sein konnte, rieb es ihn auf, sein Leib und Leben brach und er starb in wenigen Tagen. Seine Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen fest in der Hand, worauf das Liedchen von der Hoffnung geschrieben war. Er hatte es in der letzten Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelassen, und selbst wenn er einen Teller Suppe, seine einzige Speise, gegessen, das Papierchen eifrig mit dem Löffel zusammen in der Hand gehalten oder es unterdessen in die andere Hand gesteckt.

So ging denn der tote grüne Heinrich auch den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo sein Vater und seine Mutter lagen. Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Teilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen.

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